Besiedlungsverhältnisse und Verteilung des Grundbesitzes

[269] Bei der Besiedlung des Landes haben die alten Einteilungen des Stammes, die Phylen und Phratrien, nur ausnahmsweise eine Rolle gespielt, so auf Rhodos, wo das Land phylenweise verteilt wird (o. S. 250f.), ebenso vielleicht in Halikarnaß, kaum in Ephesos440. In der Regel aber ist, wenn es galt, ein feindliches Land zu erobern, einen Wald auszuroden, ein neues Dorf oder eine Kolonie anzulegen, eine Schar ausgezogen, in der alle Abteilungen des Stammes vertreten waren. Daher finden wir bei den Doriern dieselben Phylen nicht nur in den von ihnen okkupierten Landschaften, sondern auch in den einzelnen Gemeinden von Argolis und Kreta vertreten, und wo später eine Neueinteilung der Bürgerschaft nach den Wohnsitzen nötig wird, durchkreuzt sie regelmäßig die alte Phylenordnung. Ähnlich steht es mit den Brüderschaften. Die späteren Phratrien sind deutlich erst durch den Zusammenschluß der beieinander wohnenden Phylengenossen zu einem politischen und sakralen Verbande erwachsen, sie beruhen nicht auf verschollenen Verwandtschaftsverhältnissen, sondern auf den lebendigen Beziehungen der Nachbarn zueinander. In einzelnen Fällen mochten sich alte Verbindungen auch zwischen getrennten Siedlungen erhalten, im allgemeinen konnte, wer sich eine neue Heimat gewann, nicht mehr in dem alten Bluts- und Kultusverbande bleiben, sondern mußte sich neuen Bildungen anschließen. Somit kommt für die Ansiedlung außer der Gesamtheit des Stammes und der ausziehenden Abteilung wesentlich nur der Einzelne mit seiner Familie und den sonst von ihm abhängigen Leuten in Betracht.

Der ursprünglichen griechischen Siedlungsweise ist wie der der kleinasiatischen [z.B. in Karten Strabo XIV 2, 25] und italischen und überhaupt der der meisten primitiven Stämme der Einzelhof (über Adelsdörfer s.u. S. 282) ebenso fremd wie die Stadt. Jede Landschaft zerfällt vielmehr in eine Anzahl ziemlich großer offener Dörfer (κῶμαι) oder, wie sie mit Rücksicht auf die Bewohner auch genannt werden, Gemeinden (δῆμοι, ursprünglieh [270] Gaue?), denen das umliegende Ackerland zugeteilt ist. »Mit wenig Ausnahmen«, sagt [Apollodor bei] Strabo VIII 3,2, »müssen fast alle Ortschaften, die Homer im Schiffskatalog nennt, nicht als Städte, sondern als Landschaften (Gaue, χῶραι) betrachtet werden, deren jede aus mehreren Dorfverbänden (συστήματα δήμων) bestand.« Zu Städten sind sie erst durch die oft erst in sehr später Zeit erfolgte Zusammenziehung dieser Gemeinden zu einer Einheit geworden. »So sind in Arkadien Mantinea aus 5 Dörfern, Tegea und Heräa aus je 9 erwachsen, in Achaia Ägion aus 7 oder 8, Paträ aus 7, Dyme aus 8«, ebenso die übrigen Achäerstädte (Strabo VII 7, 5). Elis bestand bis zum J. 471 aus einer großen Anzahl von Dorfgemeinden, Pisa441 aus 8, Megara (Plut. quaest. Gr. 17) aus 5 Dörfern, von Tanagra in Böotien (Plut. quaest. Gr. 37) ist dasselbe überliefert; die Gemeinden von Triphylien, Phokis u.a., die später als Städte bezeichnet werden, sind ursprünglich auch nichts anderes als Dörfer gewesen. In Ätolien, wo sich die alten Zustände am längsten erhalten haben, wohnte die Bevölkerung im 5. Jahrhundert »in weit auseinandergelegenen, nicht befestigten Dörfern« (Thuk. III 94). Sparta war keine Stadt, sondern ein Komplex von vier oder fünf offenen Dörfern442. Auch für Athen (u. S. 303), Argos, Theben dürfen wir wohl Ähnliches folgern. Ebenso zerfällt z.B. die Insel Thera in 7 Dörfer (χῶροι, Herod. IV 153). Das Gebiet der drei rhodischen Städte zerfällt in κτοῖναι (»Gemeinden«?), Gaugenossenschaften mit eigenem Vermögen, Beamten und Kultus443. In der mykenischen Zeit haben sich an die Königsburgen Ansätze einer städtischen Entwicklung angeschlossen; das griechische Mittelalter dagegen steht im Mutterlande ursprünglich der Stadt ebenso feindlich gegenüber wie das germanische. [271] Im allgemeinen sind die mykenischen Königsstädte entweder verfallen oder doch nicht weiter entwickelt – das gilt auch von Athen, dessen Erweiterung zu einer wirklichen, über die Burg hinausragenden Stadt erst der Folgezeit angehört. Auch in die Enge des Mauerrings mag man sich nicht einschließen; selbst die Hauptorte sind durchweg unbefestigt. Nur ganz vereinzelt finden sich befestigte Plätze; sie sind fast alle von sehr geringem Umfang, keine politischen Zentren, sondern Schutzwehren in der Not. Zum Teil ragen diese Mauerringe von großen unbehauenen Felsblöcken schon in die mykenische Zeit hinauf wie die kleineren Felsburgen von Argolis (Bd. II 1, 246). Sie unterscheiden sich aber von den mykenischen Königsburgen dadurch, daß sie sämtlich auf hohen Berggipfeln liegen – so die Larisa von Argos (289 m), Akrokorinth (575 m), der Gipfel des Ithome in Messenien (802 m), die Burg Eira an der Grenze von Messenien und Arkadien, Lykosura in Parrhasien, das den Arkadern für die älteste Stadt galt (Pausan. VIII 38, 1), und manche Burg von Mittelgriechenland, wie Trachis und Pharygai – und daß sie eben keine Herrschersitze sind. Nur in den Kolonien mag sich infolge der exponierten Lage die Bevölkerung von Anfang an mehr in den Mittelpunkt des Gebiets zusammengedrängt haben; hier werden auch Befestigungen kleinerer Ansiedlungen nicht selten gewesen sein (vgl. die »Türme« von Teos u. S. 282).

Der Grund und Boden, den ein Stamm okkupiert, gehört zunächst der Gesamtheit. Jede Niederlassung nimmt den umliegenden, anfänglich noch unbebauten und daher herrenlosen Teil der Mark in Besitz und verteilt ihn unter ihre Mitglieder. Zwar in historischer Zeit herrscht in Griechenland überall das Privateigentum, selbst Staatsdomänen und Gemeinweiden finden sich nur in sehr beschranktem Umfang444. Aber zahlreiche Spuren zeigen, daß auch hier ursprünglich ein Gesamtbesitz der Gemeinde nach Art der germanischen Markgenossenschaft bestanden hat. [272] Überall in Griechenland wird das in erblichem Privateigentum befindliche Grundstück als »Los« (κλῆρος) bezeichnet (vgl. Il. O 498. Od. ξ 64 οἶκος καὶ κλῆρος), im Gegensatz zu dem aus der gemeinen Mark ausgeschnittenen Gut des Königs und der Götter (τέμενος)445. Offenbar ist ursprünglich vielleicht alljährlich oder zu bestimmten Terminen (wie bei den Slawen)446 jedem Gemeindemitglied, später vermutlich wenigstens jeder neu entstehenden Familie ein Stück Land durch das Los zugewiesen worden. Daher kommt es auch, daß das Ackerland des Einzelnen oft nicht einen einheitlichen Komplex bildet, sondern ein Teil weit ab vom Dorfe liegt447. In Sparta hat sich mit so vielen Institutionen der Urzeit auch die Landverteilung noch in geschichtlicher Zeit erhalten: jedes neugeborene Kind erhält nach der Anerkennung durch die Phylenältesten ein Landlos zugewiesen (Plut. Lyc. 16). Die Größe des spartiatischen Landloses wird auf einen Ertrag von 70 (äginet.) Scheffeln Gerste und ein entsprechendes Quantum Wein und Öl (ὑγροὶ καρποί) angegeben; das führt auf einen Umfang von etwa 30 Morgen (71/2 ha). Dazu kommt für die Frau ein Gut mit dem Ertrag von 12 Scheffeln Gerste und entsprechendem Wein und Öl (etwa 4 Morgen). Das entspräche also ungefähr der altdeutschen Bauernhufe von 30 bis 40 Morgen. Im 4. Jahrhundert, dem die Aufzeichnung dieser Nachricht entstammt, kann die Landzuweisung allerdings auch in Sparta längst nicht mehr in Übung gewesen sein. Aber die Erinnerung hatte sich bewahrt, der Rechtsanspruch jedes Spartiaten auf ein Los bestand noch; denn innerlich trägt die verschollene Satzung durchaus das Gepräge der Echtheit und Ursprünglichkeit. Auch die Erzählung, Lykurg habe bei seiner Gesetzgebung allen Grundbesitz konfisziert und unter die Vollbürger [273] zu gleichen Teilen verteilt, geht auf sie zurück; sie erklärt nach griechischer Art die Institution durch einen einmaligen Willkürakt des Gesetzgebers448.

[274] Anspruch auf ein Landlos hat jedes freie Gemeindemitglied. Der Grundsatz aller altgriechischen Staatsordnungen, daß jeder Grundbesitzer und nur dieser wehrpflichtig ist, kann für die Urzeit umgekehrt werden: jeder Wehrmann erhält ein Grundstück, von dem er seinen und seiner Familie Unterhalt bestreitet und das ihn in den Stand setzt, seine Pflichten gegen die Gemeinde zu erfüllen, d.h. vor allem sich zu bewaffnen und mit dem Aufgebot seines Gaues (πανδημεί) in den Kampf zu ziehen. Für viele griechischen Staatsordnungen bildet daher annähernde Gleichheit des Grundbesitzes die Voraussetzung449, namentlich bei den unkultivierten Stämmen. Ebenso mögen die Dorier vornehmlich in Sparta und auf Kreta das eroberte Ackerland in gleiche Landlose zerschlagen haben – man denke an das Vorgehen der Germanen im Römerreich. Aber nicht überall ist das der Fall gewesen. Der große Herdenbesitzer, dem zahlreiche Knechte dienen, braucht viel Land, der Arme kann nur ein kleines Grundstück bebauen. Wie dem König sein Gut aus der gemeinen Mark ausgehoben wird, wird auch der Adel, wo er existierte und politische Bedeutung hatte, einen Ehrenanteil am Lande für sich erhalten haben. Mächtige Könige, wie die der mykenischen Zeit, konnten ihre Umgebung mit großem Landbesitz ausstatten. In den Kolonien werden kühne und glückliche Unternehmer namentlich unter den ersten Ansiedlern weit mehr Land erworben haben als die später Nachkommenden. Auch mag es neben dem von der Gemeinde zugewiesenen Landlos noch Privatbesitz gegeben haben, z.B. wenn jemand ein Grundstück zuerst urbar machte oder einen Wald ausrodete. Doch entspringt die Ungleichheit des Besitzes und die darauf [275] beruhende Adelsherrschaft offenbar weit mehr den ökonomischen und politischen Wirkungen der Seßhaftigkeit als ursprünglicher Ungleichheit. In Sparta, auf Kreta, bei den Ätolern und ihren Nachbarn ist denn auch ein Adel überhaupt nicht oder doch nur in geringfügigen Ansätzen vorhanden.

Durch dauernde Besiedlung verwandelt sich das Landlos in Privateigentum. Freie Verfügung darüber erhält der Besitzer freilich dadurch noch nicht. Denn es ist ihm und seinen Nachkommen von der Gemeinde zum Unterhalt überwiesen, und diese hat das lebhafteste Interesse daran, die Familie leistungsfähig zu erhalten. Die Anschauung, daß das Familienhaupt nur der Nutznießer des Erbguts ist, gelangt zu voller Ausbildung. Die Satzung, daß das ursprüngliche Familiengut, der πρῶτος oder ἀρχαῖος κλῆρος, – im Gegensatz zu dem eventuell durch Neurodung oder außerhalb der alten Landesgrenzen, oder wo das möglich ist, auch durch Kauf als freiem Privatbesitz hinzugewonnenen Land – unveräußerlich ist450 oder daß keine Hypotheken darauf aufgenommen werden dürfen oder daß sein Verkauf ehrlos macht oder daß er nur in ganz besonderen Fällen, z.B. bei unverschuldetem Unglück, stattfinden darf, treffen wir in Sparta, in Elis, in Leukas, bei den Lokrern, und sie hat auch sonst vielerwärts bestanden. In Athen hat erst Solon für den Fall, daß keine Kinder da sind, Testierfreiheit eingeführt (Plut. Sol. 21). Auch das Recht von Gortyn kennt ein Testament ebensowenig wie das spartanische. Unzweifelhaft hat überall in Griechenland ursprünglich die Veräußerung des Grundbesitzes für unerlaubt, ja einfach für unmöglich gegolten451. Die Zahl der Landlose [276] darf sich nicht vermindern; so bestimmt eine Verordnung der hypoknemidischen Lokrer, daß von den nach Naupaktos gesandten Ansiedlern nur derjenige die neue Heimat verlassen darf, »der an seinem Herde einen erwachsenen Sohn oder Bruder zurückläßt« (IGA. 321, 7). Die Regelung des Erbrechtes, die Bestimmung über die Hand der Erbtochter, von der für den Verstorbenen ein Erbe gezeugt werden muß, »die auf dem Erbgut sitzt« (ἐπίκληρος) oder »die das Vatergut hat« (πατροῦχος, auf Kreta πατρωιοχος), werden zur wichtigsten Aufgabe der Rechtspflege und die Quelle ununterbrochener Streitigkeiten452. Auch sonst sorgt der Staat für die Erhaltung seiner Bürgerzahl: in Sparta und Kreta zwingt er jeden zur Ehe, und wer drei Kinder hat, wird in Sparta vom Kriegsdienst befreit453.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 269-277.
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