Sturz des Hippias. Kleisthenes und Kleomenes

[737] Das griechische Mutterland hat die Rückwirkung der Ereignisse in Asien sofort empfunden. Als Mäandrios nach seiner Vertreibung aus Samos sich nach Sparta um Hilfe wandte, wurde er auf Betreiben des Kleomenes von den Ephoren aus dem Peloponnes ausgewiesen. Wann das Perserreich in die europäischen Verhältnisse eingreifen würde, war jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Bald nach 515 ist Darius über den Bosporus gegangen, hat Thrakien unterworfen und im Kriege gegen die Skythen die Donau überschritten. Die glänzende Stellung, welche Pisistratos eingenommen hatte, ging seinem Sohn verloren, ohne daß er etwas tun konnte, sie zu behaupten. Miltiades, der Herrscher des Chersones, wurde, wenn er auch die Beziehungen zu Athen aufrecht erhielt, doch aus einem attischen ein persischer Vasall und leistete dem [737] Darius getreulich Heeresfolge gegen die Skythen wie alle äolischen und ionischen Tyrannen; Hippias selbst hat als Herrscher von Sigeon unzweifelhaft dem Perserkönig gehuldigt. Wie Polykrates gestürzt wurde, ging auch die Tyrannis des Lygdamis auf Naxos zu Ende; in diesem Falle dürfen wir wohl glauben, daß die Spartaner ihn gestürzt haben (Plut. de Herod. mal. 21, vgl. Apophth. Lac. 64 und o. S. 579,1), vielleicht beim Zuge gegen Samos. So wurde Athen immer mehr isoliert. Auch im Innern wurde die Stellung des Tyrannen schwieriger; im Jahre 514 gab eine Beleidigung, die Hipparch dem jungen Harmodios zugefügt hatte, den Anlaß zu einer großen Verschwörung. Zwar das Attentat auf Hippias wurde vereitelt, aber Hipparch wurde von Harmodios und seinem Liebhaber Aristogeiton bei der Ordnung des panathenäischen Festzuges niedergestoßen. So fühlte Hippias den Boden unter seinen Füßen wanken; er entwaffnete die Bürger (vgl. o. S. 718) und sah sich zu Gewalttaten und Hinrichtungen gezwungen; er befestigte den Hügel von Munychia an der See. Um so konzilianter wurde seine äußere Politik. Er trat in nahe Verbindung mit Sparta (Herod. V 63. 90) und vermählte, um sich für alle Fälle einen Rückhalt zu sichern, seine Tochter Archedike mit Aiantides, dem Sohn des beim Perserkönig angesehenen Tyrannen Hippoklos von Lampsakos, des alten Gegners der Athener auf dem Chersones (Thuk. VI 59). Die Emigranten schöpften Mut; wie schon früher Kedon, versuchten nun die Alkmeoniden, deren Haupt jetzt Megakles' Sohn Kleisthenes war, der Enkel des Herrschers von Sikyon, die Tyrannis mit Gewalt zu stürzen. Sie brachen von Böotien aus in Attika ein und besetzten die Burg Leipsydrion im Parnes. Sie erhielten auch einigen Zuzug aus der Stadt; aber Hippias schlug sie aufs Haupt und zwang sie, den attischen Boden zu räumen.

So war die Befreiung Athens aus eigener Kraft mißlungen; nur durch fremde Hilfe war es möglich, zum Ziel zu gelangen. Auch dafür wußte Kleisthenes Rat. Die Alkmeoniden hatten sich das delphische Orakel durch den glänzenden Neubau des Tempels (o. S. 664) zu Dank verpflichtet; so wurde die Pythia gewonnen, den Spartanern bei jedem Anlaß die Befreiung Athens [738] zu befehlen. Der spartanischen Politik kam dieser Befehl sehr ungelegen; sie konnte nichts Besseres wünschen, als mit Hippias in guten Beziehungen zu leben. Aber auf die Dauer wagte man nicht, dem Geheiß des Gottes zu trotzen; im Jahre 511 landete ein spartanisches Korps unter Anchimolios bei Phaleron. Hippias war auf den Angriff vorbereitet; mit Unterstützung der thessalischen Reiterei, die ihm der König Kineas zuführte, schlug er die Spartaner, Anchimolios selbst fiel im Kampf. Jetzt war die Ehre Spartas engagiert. Im nächsten Jahre führte König Kleomenes selbst den Heerbann nach Attika. Die Truppen des Hippias und die thessalischen Reiter wurden geschlagen, der Tyrann auf der Burg eingeschlossen. Durch einen Zufall fielen seine Söhne den Feinden in die Hände; Hippias kapitulierte auf freien Abzug und ging nach Sigeon (Frühjahr 510). Athen war befreit; der Tyrann und sein Haus wurden geächtet1054, dem Harmodios und Aristogeiton als Tyrannenmördern heroische Ehren zugesprochen. Oberhalb des Markts wurden ihre Statuen in Erz aufgestellt, ein Werk des attischen Meisters Antenor, das uns durch zahlreiche Nachbildungen bekannt ist; ihre Nachkommen erhielten ständige Speisung im Prytaneon; bei allen Trinkgelagen erschollen die Lieder zu ihren Ehren und zum Andenken an Kedon und die bei Leipsydrion Gefallenen1055.

Nicht durch eine Erhebung des Volkes ist die Tyrannis gefallen, sondern durch die ausgewanderten Adligen und die spartanische Intervention. Hippias hinterließ bei seinem Abzug nicht nur in den unteren Ständen, sondern auch in den vornehmen [739] Kreisen (zu denen z.B. Hipparchos, der Sohn des Charmos, gehörte) einen starken Anhang, der noch nach Jahrzehnten seine Herrschaft zurücksehnte. So lag die Entscheidung zunächst bei Sparta. Kleomenes, dem die Alkmeoniden mit Recht verdächtig erschienen, unterstützte den alten Adel, mochte er auch zum Teil mit den Pisistratiden seinen Frieden gemacht haben. Durch eine aristokratische Restauration konnte er hoffen, Athen im Fahrwasser der spartanischen Politik festzuhalten. An die Spitze des Adels trat sein Gastfreund Isagoras, der Sohn des Tisandros. Aber Kleisthenes hatte nicht alle Hebel zum Sturz der Tyrannis in Bewegung gesetzt, um sich aufs neue einem anderen unterordnen zu müssen. Er griff zu der alten Politik seines Hauses zurück und trat an die Spitze des Demos; durch große Reformen suchte er diesem das Übergewicht zu schaffen und an seiner Spitze selbst zu regieren. Auch von den Adligen haben sich ihm nicht wenige angeschlossen. Isagoras wandte sich um Hilfe an Kleomenes, und dieser forderte die Verjagung des fluchbeladenen Geschlechts. Kleisthenes wagte keinen Widerstand; er verließ mit seinem Anhang das Land, Isagoras trat als Archon an die Spitze des Staats (Juli 508). Jetzt erschien Kleomenes selbst mit bewaffneter Macht in Athen, um gründlich Ordnung zu schaffen: siebenhundert Familien wurden verjagt, die Regierung in die Hände von dreihundert Adligen gelegt. Aber seine Macht war nicht stark genug. Der Rat setzte sich zur Wehr und rief die Bürgerschaft zu den Waffen; Kleomenes und Isagoras wurden auf der Burg belagert und mußten nach zweitägigem Widerstand kapitulieren. Sie erhielten freien Abzug; wer von ihren Anhängern den Athenern in die Hände fiel, wurde hingerichtet, Kleisthenes und die übrigen Verbannten zurückgerufen. Die geplante Verfassungsreform konnte sofort ausgeführt werden1056.

[740] Der inneren Feinde war man Herr geworden, im Felde stand die Entscheidung noch bevor. Daß Kleomenes die Schmach rächen würde, war sicher; mit den Peloponnesiern verbanden sich die Thebaner und die Chalkidier von Euböa – Eretria wird auch jetzt die Freundschaft mit Athen gewahrt haben –, um Athen zu erdrücken. In dieser Not hat sich Kleisthenes an Persien gewandt; attische Gesandte gingen zu dem Satrapen von Sardes, Artaphrenes, mit der Bitte um Hilfe. Artaphrenes sagte sie zu, wenn Athen dem Perserkönig huldige; und die Gesandten waren dazu bereit. Daß es jetzt noch nicht zu einer persischen Intervention in Griechenland kam, lag weniger daran, daß die Gesandten – wenn wir in diesem Punkte der Tradition glauben dürfen (Herod. V 73) – in Athen desavouiert wurden, als daran, daß die Krisis diesmal vermieden wurde und die Perser keine Eile hatten, sich in die griechischen Händel zu mischen. – Im Frühjahr 507 rückten beide spartanische Könige, von Isagoras und seinen Parteigängern begleitet, mit dem Aufgebot des Peloponnesischen Bundes in Attika ein und besetzten Eleusis; gleichzeitig brachen die Böoter über den Kithäron vor und eroberten das ihnen 519 entrissene Gebiet und das Grenzdorf Oinoe; die Chalkidier verwüsteten das Küstenland am Euripos. Das attische Bürgerheer zog den Peloponnesiern entgegen. Aber zur Schlacht kam es nicht. Die Korinther, auch jetzt ihrer athenerfreundlichen Politik getreu, weigerten den Spartanern den Gehorsam, und König Demarat selbst trat seinem Mitkönig entgegen. An dem Widerspruch der von den Eurypontiden gestützten zurückhaltenden Politik des spartanischen Demos sind Kleomenes' weitausschauende Pläne gescheitert, die ihn und Sparta zum Herrscher von Hellas [741] machen sollten; um einer ungerechten Sache willen alles aufs Spiel zu setzen und den schweren Krieg mit Athen zu wagen, war man nicht gewillt. Kleomenes mußte sich fügen; unverrichteter Dinge kehrte das große Heer über den Isthmos zurück. Wie bedenklich für Spartas Stellung der Ausbruch des inneren Konflikts im offenen Felde war, empfand man wohl; es wurde verordnet, daß in Zukunft immer nur einer der beiden Könige, und demgemäß auch nur einer der beiden Dioskuren, der Schutzgötter des Königtums, mit dem Heere ausziehen dürfe. – Kleomenes hat noch einmal versucht, auf einer Bundesversammlung seine Absicht durchzusetzen, und diesmal die Rückführung des Hippias gefordert; aber auch dieser Plan scheiterte an dem Widerspruch der Korinther. Nur die Ägineten setzten den Krieg fort; sie überfielen den Hafen von Phaleron und plünderten die attische Küste. Die zwischen den beiden Nachbarn ausgebrochene Fehde hat sich jahrzehntelang hingezogen. – Nach dem Abzug der Peloponnesier erfochten die Athener einen glänzenden Sieg über die Böoter, überschritten an demselben Tag den Euripos und schlugen die Chalkidier1057. Gegen Böotien wurde die Grenze von 519 wiederhergestellt; Chalkis mußte das ehemals den Eretriern entrissene lelantische Gebiet abtreten, das mit Kleruchen, angeblich 4000, besiedelt wurde. Die augenblickliche Gefahr war überstanden. Aber schon kündigte sich ein neuer Feind an. Hippias hatte die Angebote seiner alten Freunde, der Thessaler und des Amyntas von Makedonien, abgelehnt, sich in Iolkos oder in der Landschaft Anthemus (nördlich von der Chalkidike) anzusiedeln, und war nach Sigeon gegangen, um von hier seine Rückführung durch persische Hilfe zu betreiben. Seine Vorstellungen hatten Erfolg, trotz der Remonstrationen einer athenischen Gesandtschaft; Artaphrenes von Sardes sandte den Athenern den Befehl, Hippias bei sich aufzunehmen. Kleisthenes und die junge Demokratie mochten im Vertrauen auf die gewonnenen Siege der drohenden Gefahr zuversichtlich entgegensehen; [742] wer tiefer blickte, konnte schon jetzt nicht mehr verkennen, daß am politischen Horizont eine Wetterwolke aufzog, wie sich noch keine über der griechischen Welt entladen hatte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 737-743.
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