Die Reform des Kleisthenes

[743] Kleisthenes' politische Reformen erstrebten die vollständige Brechung der Adelsmacht. Nachdem Solon dem Adel die politischen Vorrechte genommen hatte, versuchte Kleisthenes seinen persönlichen Einfluß zu beseitigen1058. Deshalb wurden die alten auf dem Blutsverbande beruhenden Phylen, in denen die großen Geschlechter und die seit Jahrhunderten ererbten Familienverbindungen den maßgebenden Einfluß hatten, aller politischen Rechte entkleidet. An ihre Stellen traten zehn neue Phylen, die nicht mehr nach der Abstammung, sondern wie alle gleichartigen Neueinteilungen der Bürgerschaft (o. S. 286) nach dem Wohnsitz gebildet wurden1059. Freilich durften sie auch nicht einfach die natürliche Gliederung der Landschaft wiedergeben; sonst wäre lediglich eine neue Organisation für die Vertretung der Sonderinteressen geschaffen und der Gegensatz der großen Landdistrikte verewigt worden, der in der Geschichte des 6. Jahrhunderts eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hatte. Deshalb wurde die Landschaft in drei Hauptgruppen zerlegt, das Stadtgebiet mit den umliegenden Dörfern und Höfen, das Küstengebiet und das Binnenland, und jeder dieser Teile in zehn an Bevölkerungszahl etwa gleich große »Drittel« (τριττύες) zerschlagen; je drei dieser Drittel [743] wurden durch das Los zu einer Phyle vereinigt. Die neuen Phylen sind die Stimmkörper und die Heeresabteilungen wie früher die alten; sie werden wie diese als Blutsverbände gedacht und erhalten ihren Ahnen oder Schutzheiligen aus den attischen Heroen, deren Namen sie tragen – man hat dem delphischen Orakel hundert Namen vorgelegt und dies zehn daraus ausgewählt –; aber ihnen fehlt jede innere Einheit, sie sind lediglich administrative Bezirke. Mit den Städtern stimmen und dienen die Bauern aus der Diakria und die Schiffer von der Küste in derselben Abteilung, während die Angehörigen desselben Geschlechts, wenn sie getrennte Wohnsitze haben, in verschiedenen Phylen stehen. Die Trittyen sind zwar räumliche Einheiten, Gaue von durchschnittlich 11/2 bis 2 Quadratmeilen, aber sie haben keine politische Bedeutung. Die niedere Einheit, aus der sich die Phylen zusammensetzen, bilden vielmehr die Dörfer (δῆμοι). Auf diese wird die Organisation der jetzt aufgehobenen Naukrarien übertragen; auch die Stadt wird in Dorfgebiete zerlegt. Jedes Dorf, ob groß oder klein, verwaltet seine Gemeindeangelegenheiten selbst, unter Leitung des erwählten Dorfschulzen (δήμαρχος); es führt die Liste der Losungen (ληξιαρχικόν) und entscheidet im Zweifelsfall durch Abstimmung (διαψηφισμός) über das Bürgerrecht des Einzelnen. Jeder attische Bürger wird fortan offiziell nach seinem Demos benannt, nicht mehr nach der Abstammung und dem Vatersnamen. Auf der Dorfangehörigkeit beruht das Staats- oder vielmehr korrekter das städtische Bürgerrecht. – Die neue Phylenordnung gab zugleich die Möglichkeit, den zahlreichen, zum Teil seit Jahrhunderten in Attika ansässigen Bewohnern, die den alten Blutsverbänden nicht angehörten, Nachkommen von Zuwanderern und Sklaven, das Bürgerrecht zu erteilen1060. Die Neubürger schlossen sich zu religiösen Verbänden (ϑίασοι, ὀργεῶνες) zusammen, die ihnen den Blutsverband ersetzten; wie die alten Familien verehrten sie in diesen den Zeus des Hofs und den Stammvater Apollo. Sie wurden das Ferment der neuen Ordnung, auf der ihre [744] Rechte beruhten. Die alten Phylen mit ihren Phylenkönigen, die Phratrien und die Geschlechter ließ Kleisthenes als religiöse Verbände unangetastet; nur wurde verordnet, daß »die Phratrien verpflichtet seien, sowohl die Geschlechtsgenossen wie die Orgeonen aufzunehmen«1061. So behielten die Phratrien eine große Bedeutung, konkurrierend mit den Demen führen sie eine Bürgerliste; sie waren ja für das Blutrecht unentbehrlich.

Die sonstigen Neuerungen des Kleisthenes sind meist einfache Konsequenzen der neuen Phylenordnung. Die Zahl der Ratsherren wurde von 400 auf 500 erhöht, 50 aus jeder Phyle, und diese in den Demen erlost (Aristot. pol. 62); jedem Demos wurde nach seiner Größe eine bestimmte Anzahl von Ratsstellen zugewiesen. So war dafür gesorgt, daß auch die Landgemeinden ihre ausreichende Vertretung in der regierenden Körperschaft hatten. Dem entspricht die Einteilung des Jahres in zehn Abschnitte, während deren je eine Phyle des Rats (Prytanie) die laufenden Geschäfte und den Vorsitz in der Volksversammlung führte; die Folge der Prytanien wurde durch das Los bestimmt. Im J. 503 wurde der neue Ratseid eingeführt. Im J. 502 wurden zuerst zehn Strategen als Kommandanten des Aufgebots der einzelnen Phylen gewählt1062 – man sieht, wie die neuen Institutionen erst allmählich durchgeführt sind. Mit dem Polemarchen zusammen, der den Vorsitz hatte und den rechten Flügel kommandierte, bildeten die Strategen den Kriegsrat; der Oberbefehl wechselte von Tag zu Tag. Auch die Finanzämter wurden zum Teil reorganisiert (Androtion fr. 3. 4). An den übrigen Bestimmungen der Verfassung hat Kleisthenes nichts geändert. Dem Areopag blieben seine Rechte gewahrt; das Archontat wurde durch Wahl besetzt; die Pentakosiomedimnen[745] allein hatten Zutritt zu den höheren Staatsämtern. Nur wurde die souveräne Stellung des Volkes stärker betont als bisher. Bezeichnend dafür ist, daß die Anlage des großen für die Volksversammlungen bestimmten Platzes auf dem Pnyxhügel westlich am Areopag, der durch gewaltige Futtermauern gestützt wurde, dieser Zeit angehört1063. Die Hochverratsprozesse, die in der Form einer Denunziation (εἰσαγγελία) erfolgen, sind offenbar durch Kleisthenes vom Areopag (o. S. 609f.) auf das Volk übertragen worden; die Prozesse des Miltiades zeigen bereits die spätere Form. Auch sonst mag die Volksgerichtsbarkeit erweitert worden sein. Die polizeiliche Strafgewalt der Beamten, des Areopags und des Rats blieb indessen unangetastet. Um die Wiederkehr einer Tyrannis unmöglich zu machen, wurde dem Volke das Recht gegeben, einen hervorragenden Mann, der ihm verdächtig schien, auf zehn Jahre aus dem Staatsgebiet zu verweisen. Alljährlich unter der sechsten Prytanie wurde angefragt, ob ein derartiges Verfahren stattfinden solle; wurde das beschlossen, so versammelten sich in der achten Pyrtanie (April) die Bürger auf dem Markte. Mindestens 6000 Stimmen mußten abgegeben werden, wie bei jedem Ausnahmegesetz (o. S. 610). Die herumliegenden Scherben gaben das Schreibmaterial, daher trägt das Verfahren den Namen »Scherbung« (ὀστρακισμός). Es ist zuerst im J. 487 zur Anwendung gekommen.

Durch Kleisthenes' Reformen ist der Grundgedanke der Solonischen Staatsordnung voll verwirklicht. Attika ist in der Tat eine einzige Stadt; alle Unterschiede innerhalb der Bürgerschaft, soweit sie auf Abstammung und Wohnsitz beruhen, sind aufgehoben. So kehrt die Entwicklung zu ihrem Ausgangspunkt zurück; die rechtliche und politische Gleichheit der Vollfreien, welche die Grundlage des alten Stammverbandes bildete, ist jetzt in den Formen des die ganze Landschaft umfassenden Stadtstaats durchgeführt. Damit ist ein Ideal geschaffen, das nicht nur die nächsten Generationen (vgl. Herod. V 78) begeistert hat. Die Idee der Gleichheit, [746] der Selbstregierung des gesamten Volkes, des Aufgehens jedes Bürgers und seiner Sonderinteressen in dem allgemeinen Staatsbegriff, die hier zum erstenmal, wenn auch noch nicht vollkommen – denn noch begründet außer der Befähigung der Persönlichkeit auch der Besitz einen tiefgreifenden Unterschied – durchgeführt ist, übt immer von neuem einen Zauber. Freilich liegt es im Wesen jedes politischen Ideals, daß der Versuch, es zu verwirklichen, sich über die tatsächlichen Verhältnisse hinwegsetzen muß. Die berechtigten Sonderinteressen, der natürliche und soziale Gegensatz zwischen Stadt und Land, sind dadurch nicht aufgehoben, daß die Verfassung sie geflissentlich ignoriert. Indessen für den Augenblick war von diesem Gegensatz noch wenig zu spüren. Die Kleisthenische Verfassung stützt sich auf die breiten Massen des Mittelstandes – daher gilt sie der späteren Epoche als konservativ. Begründet hat ihn Solon, materiell existenzfähig gemacht Pisistra tos; jetzt übernimmt er das Regiment. In den Festen, die er feiert, in den Chorgesängen1064 zu Ehren des Dionysos verherrlicht er sich selbst; in den geschlossenen Bataillonen des Bürgerheers findet er seinen vollendeten Ausdruck. Die Organisation der Hoplitenphalanx nach spartanischem Muster (vgl. o. S. 520), von der die Chroniken freilich nichts berichten, ist offenbar gleichfalls Kleisthenes' Werk. Beim Sturz des Hippias hatte die thessalische Reiterei gezeigt, wie wenig sie dem geschlossenen Angriff der Hopliten gewachsen war. So verschwindet die Bürgerreiterei auch in Athen aus dem Heer; beim Panathenäenfest zieht die vornehme Jugend zu Roß auf, aber in den Perserkriegen hat sie zu Fuß gekämpft. Erst später ist dann aufs neue ein kleines Reiterkorps geschaffen worden. Auch das ist ein wesentliches Moment für die Durchführung der bürgerlichen Gleichheit. – Auch in Athen ist die Neugestaltung nicht ohne schwere innere Kämpfe erreicht worden. Viel Bürgerblut war geflossen; zahlreiche Emigranten waren mit Hippias gegangen und erhofften von den Persern die Rückführung in die Heimat; ihnen werden sich die Anhänger des [747] Isagoras angeschlossen haben, die mit Kleomenes gegen Athen gezogen waren und über die jetzt die Acht verhängt, deren Häuser geschleift wurden (Schol. Aristoph. Lysistr. 273). Aber ein günstiges Geschick hat Athen vor dem Äußersten bewahrt, dem Vernichtungskampf der Parteien, wie er in so manchen anderen Staaten sich abgespielt hatte. Männer aus den ersten Familien, der Medontide Solon, der Alkmeonide Kleisthenes, waren die Führer der volksfreundlichen Partei; zahlreiche Adelsgeschlechter haben sich ihnen angeschlossen und sich ohne Groll in die neue Ordnung gefügt. So blieb der Adel und sein großer Besitz unangetastet und damit die Fülle materieller Mittel und politischer Intelligenz Athen erhalten, welche ein adliger Großgrundbesitz dem Staate zu bieten vermag. Noch ein Jahrhundert lang sah das Volk in den Adligen die berufenen Leiter des Staats, und diese waren bereit ihre ganze Kraft, und wenn es sein mußte, Leben und Gut dem Gemeinwohl zu widmen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 743-748.
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