Die babylonische Judenschaft und die Gründung der jüdischen Kirche. Ezra, Nehemia und der Priesterkodex

[184] Lange konnte auch dieser Trost nicht vorhalten. Bald kamen wieder Notjahre, Heuschreckenplagen, Mißernten (Mal. 3, 10f.). Immer weiter griff die Verschuldung um sich; um die Steuern zu zahlen oder das tägliche Brot zu kaufen, mußten nicht wenige ihre Söhne und Töchter in die Schuldknechtschaft geben (Neh. 5). Von einer Änderung der Weltlage war nichts zu spüren; nur verloren jetzt auch die Davididen ihre leitende Stellung – vielleicht hat es Darius doch für geraten gehalten, Zerubabel abzusetzen oder wenigstens die Statthalterschaft seinen Nachkommen nicht mehr zu übertragen. Später haben die Perser den Posten ganz [184] eingehen lassen. Mit den Samaritanern kam es zum vollen Bruch. In einer Schrift dieser Zeit wird den Ausländern, die sich an Jahwe anschließen, zugesichert, daß Jahwe sie nicht von seinem Volk trennen wird; sogar den Eunuchen wird, im Widerspruch mit dem Deuteronomium, »ein Mal im Tempel und ein ewiger Name verheißen, der besser ist als Söhne und Töchter«. Aber der Bastardbrut, der Jahwe seine Arme weit ausgebreitet hatte und die ihn verschmähen, die an ihrem Götzen festhalten und ihm sogar einen Tempel bauen wollen an unheiliger Stätte, die über ihre Brüder höhnen und sie verfolgen, wird die Absage entgegengeschleudert. Sie sind nicht Jahwes Volk, sondern eine abtrünnige Lügenbrut, Söhne eines Ehebrechers und einer Dirne, nicht besser als die »Völker des Landes«, die Amoriter, Kana'aniter, Chetiter, die ehemals das heilige Land bewohnten und die Jahwe um ihrer Greuel willen ausgetilgt hat. So soll sie dasselbe Schicksal treffen samt ihren Götzen. Die Samaritaner setzten sich zur Wehr: schon unter Xerxes richtete der Statthalter von Samaria eine Beschwerde über die Juden an den König. Daß die verhaßten Edomiter durch die Araber eine schwere Schlappe erlitten, war zwar ein Trost (Mal. 1, 2. Jes. 63, 1ff. Obadja), aber ein dürftiger: denn man profitierte davon nichts. Der Glaube ist stärker als alle Erfahrung, und so hielt man an den glänzenden Verheißungen, an der herrlichen Zukunft des messianischen Reichs, wo alle Völker zu Jahwe nach Jerusalem kommen werden, unerschütterlich fest. Aber schwer empfand man überall den Kontrast zwischen den Prätensionen, mit denen man auftrat und alle Nachbarn vor den Kopf stieß, und der trostlosen Lage der Gegenwart. Gründe für das Ausbleiben der göttlichen Gnade ließen sich immer auftreiben: daß man die Sabbate nicht heiligte, fremde Weiber heiratete, ungenügende Zehnten und schlechte Opfertiere brachte, wie sie der Statthalter nicht annehmen würde, daß man die Armen bedrückte und auf seinen Vorteil bedacht war, sich auf Fasten und Kasteiungen etwas zugute tat, statt Werke der Liebe gegen seine Brüder zu üben, daß die Priester ungerechte Entscheidungen, eine falsche Tora gaben. Derartige Vorwürfe sind in einer kleinen Broschüre (dem Maleachi-Buch) zusammengestellt, deren Verfasser [185] ein Prophet sein will und im Namen Jahwes spricht, aber bezeichnend genug anonym – es gibt ja auch keine Ereignisse mehr, bei denen ein Volksredner mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit hätte auftreten können, und so entbehren alle diese Sprüche des bestimmten Anlasses, der bei den echten Propheten nie fehlt. Ausführlicher wird, neben der Auseinandersetzung mit den Samaritanern, das gleiche Thema in den Strafreden und Verheißungen behandelt, welche der Schrift Deuterojesaias angehängt sind und die man jetzt als Tritojesaja bezeichnet (o. S. 176) – entstanden ist sie vielleicht erst in der Zeit Ezras. Aber all diese Argumente und die Vertröstungen auf den Tag des Kommens Jahwes konnten nicht viel nützen: so verkehrte die Frage: »warum fasten wir und Du siehst es nicht, kasteien uns und Du merkst es nicht?« (Jes. 58, 3) sich nicht selten in den Verzweiflungsruf: »es ist nutzlos, Gott zu dienen, und was haben wir davon, daß wir seine Vorschriften beobachtet haben und im Trauergewande vor Jahwe dem Herrn gewandelt sind? Jetzt müssen wir die Frechen glücklich preisen; sie sind gediehen, obwohl sie Böses taten, sie haben Gott auf die Probe gestellt und sind straflos davongekommen.« »Wer Böses tut, ist gut in den Augen Jahwes, und solche Leute hat er gern; oder wo bliebe der Gott des Gerichts?« (Mal. 3, 14f. 2, 17). Es ist begreiflich, daß gar manche und gerade die Bessersituierten die Dinge nahmen, wie sie lagen, daß sie den praktischen Aufgaben des Tages sich zuwandten, daß die Häupter der Laien wie der Priesterschaft Frieden suchten mit den Nachbarn und sich mit ihnen verschwägerten, wenn auch dem einen und dem andern das Gewissen dabei schlagen mochte. Die neue Gemeinde geriet in vollständige Stagnation, aus der sie sich mit eigenen Kräften nicht mehr herausreißen konnte.

Die Wendung kam von Babylon. Die in Babylonien zurückgebliebenen Exulanten hatten wesentlich andere Bedürfnisse als die Judengemeinde daheim. Natürlich hofften auch sie auf die Herrlichkeit der messianischen Zeit; aber einstweilen ging es ihnen auch so ganz gut. Sie prosperierten und breiteten sich aus und gewannen Einfluß auch bei Hofe, wo nicht wenige Juden Dienste nahmen und sich beim König beliebt zu machen verstanden. Sie [186] waren fromme und eifrige Jahweverehrer, um so mehr, da sie mitten unter Andersgläubigen lebten: die Zugehörigkeit zum Volke Jahwes war die Grundlage ihrer geistigen Existenz, auf ihr beruhte es, daß sie sich den Völkern, unter denen sie wohnten, überlegen fühlten und des göttlichen Segens auch in den Dingen dieser Welt sicher waren. Jerusalem war für sie das Zentrum der Welt; nicht selten mögen sie schon in der persischen Zeit zum Tempel gepilgert sein, ebenso wie sie den Brüdern in der Heimat Unterstützungen zukommen ließen (Zach. 6, 10; vgl. Ezras Kollekte u. S. 191). Aber die Entwicklung, welche die Dinge hier genommen hatten, konnte ihnen nicht genügen. An der hochheiligen Stätte, wo der Schöpfer und Regierer der Welt seinen Wohnsitz hatte, mußte sein Wille voll durchgeführt sein, unbekümmert um alle irdischen Hindernisse. Hier durfte keinerlei Unreinheit und Befleckung geduldet werden, hier durfte nur das Gesetz herrschen, das allein die Sicherheit gab, daß Jahwes Gnade dauernd seinem Volke zugewandt war und keine neue Katastrophe eine nochmalige Vernichtung auch des »Restes« herbeiführte. Ihre Existenz beruht nicht darauf, daß die irdischen Verhältnisse in Palästina gebessert wurden und das Volk als Nation und Staat wiederhergestellt ward, sondern darauf, daß das Judentum als Religion durchgeführt wurde und diese Religion tadellos funktionierte. Waren die Juden Palästinas nicht imstande, aus eigener Kraft das Ziel zu erreichen, so mußten die Brüder im Reich eingreifen und sie zwingen: sie durften hoffen, die Macht des Königs für diese Zwecke gewinnen zu können. Die Ordnung, welche es durchzuführen galt, hatte der Priester Ezra in einem »Buch der Tora Moses« niedergelegt. Dies Gesetzbuch, von uns der Priesterkodex genannt, ist ein Sammelwerk, das mehrere Entwürfe und Bearbeitungen aufgenommen hat (darunter das Sinaigesetz o. S. 171f.); es bildet den Abschluß und die Zusammenfassung der systematisierenden Tätigkeit, die mit Ezechiel begonnen hatte270.

[187] Das Gesetzbuch ist, wie Ezechiels Entwurf, ein durchaus doktrinäres Werk. Wo es gilt, das Prinzip durchzuführen, scheut es vor keiner Konsequenz zurück. Nach dem Vorbild der älteren Literatur und des deuteronomistischen Geschichtswerks trägt es das Gesetz im Rahmen der Weltgeschichte vor. Es setzt ein mit der Schöpfungsgeschichte, die zwar an den uralten Chaosmythos (Bd. II2 2, S. 181ff.) anlehnt, aber die mythischen Züge fast völlig beseitigt hat. Aus dem uranfänglichen Wirrwarr, da Finsternis herrschte und Gottes Geist über den Wassern brütete, hat Gott die lichte, wohlgeordnete Gotteswelt geschaffen, die im Menschen, dem Ebenbilde Gottes, gipfelt. Am Schluß seines Werkes, am siebenten Tage, ruhte Gott aus: der Sabbat, das Distinktiv des Judentums, wird hier zu einem Grundpfeiler der Weltordnung. Ebenso wird das Grundgebot der jüdischen Speisegesetze, das Verbot des Blutgenusses, in Noah der gesamten Menschheit auferlegt. In kurzer Folge, mit Ausscheidung alles Legendarischen und Individuellen, mit Beseitigung all der Züge, welche den fortgeschrittenen ethischen oder religiösen Forderungen widersprechen – der Verfasser will die alte Überlieferung nicht geradezu aufheben, aber er schiebt sie beiseite –, wird der Überblick der Urgeschichte und die Berufung des auserwählten Samens Abrahams aus den Völkern berichtet. Die Beschneidung, das zweite »Zeichen« des Judentums, wird als Bundeszeichen zwischen Gott und Abraham eingesetzt. Aber erst am Sinai offenbart Jahwe seinen Namen und gibt die Gesetze, nach denen sein Volk leben soll – nicht mehr ein Staat, sondern eine kirchliche »Gemeinde« ('eda), daher ohne weltliche Einrichtungen und ohne politisches Oberhaupt, dagegen mit dem Hohenpriester an der Spitze, dessen Bedeutung und Machtbefugnis ins Ungemessene gesteigert wird. Die Okkupation und schematische Verteilung des Landes der Verheißung unter die Stämme [188] bildet den Abschluß; von einem Krieg mit den Kana'anäern ist nicht die Rede, das Land wird vielmehr unbewohnt gedacht wie vor der Rückkehr aus dem Exil. Auch sonst tritt die Beziehung auf die Gegenwart durchweg hervor: Abraham ist aus der Chaldäerstadt Ur in Babylonien ausgezogen, Palästina ist ein armes Land, »das seine Bewohner frißt«, seine Einwohner sind Chetiter nach assyrischem Sprachgebrauch; die Sünden der Gegenwart, die Ehen mit heidnischen Weibern, die Verletzung der absoluten Sabbatruhe, die Anmaßung priesterlicher Rechte durch Laien sind auch die großen Verbrechen der mosaischen Zeit, die darauf gesetzten Strafen werden in abschreckenden Exempeln zur Schau gestellt.

Das wichtigste Charakteristikum des Priesterkodex ist, daß er für die Masse der Gläubigen den Gottesdienst von den alten Grundformen des religiösen Lebens und des Verkehrs mit der Gottheit, dem Opfer und dem Altar, völlig losgelöst hat. Zwar ein Zustand ohne Tempel und regelmäßige Opfer ist auch für ihn auf die Dauer unmöglich. Aber das ist ihm nicht mehr die natürliche und selbstverständliche Form des Kultus, sondern etwas Spezifisches, von Jahwe erst am Sinai bei der Begründung der Gemeinde zugleich mit seinem Namen offenbart; vorher gab es keinen Opferdienst, die Patriarchen wußten nichts davon. Und auch in Zukunft geht er den Laien nur insoweit an, als er dafür zu steuern, Zehnten und Abgaben zu liefern hat. Er wird von den Priestern tagein tagaus nach genau bestimmten Satzungen vollzogen, zwar ein unentbehrlicher Heilsapparat, der aber gewissermaßen von selbst abläuft, ohne Zutun der Menschen. Wer in Jerusalem oder Palästina lebt und seine Opfergaben selbst an die Priester abliefert, kann sich wenigstens an der Anschauung der heiligen Stätten und der unmittelbaren Nähe Jahwes erbauen; bei den Juden in der Diaspora, in Babylonien, kommt die Sehnsucht danach in den Gedichten der späteren Zeit oft ergreifend zum Ausbruch und führte nicht selten zu dem Entschluß, mit Überwindung aller Hindernisse eine Pilgerfahrt auszuführen. Aber im übrigen besteht ihr religiöses Leben in der Beobachtung aller von Jahwe geforderten Riten, vor allem der Beschneidung, der Reinheits- und Speisegebote und der Sabbatruhe.[189] Hinzu kommen das Gebet und die Festfeiern – denn auch diese sind in notwendiger, wenn auch damals nicht geahnter Konsequenz des deuteronomischen Gesetzes vom Opfer und Tempel losgelöst. Ausdrücklich gibt der Priesterkodex ihre Feier überall frei; er verwandelt das Passah aus einem Volksfest an heiliger Stätte in ein im Hause gefeiertes Familienfest. Die Konsequenz der Erhebung des exklusiven Jahwe von Jerusalem zum alleinigen Gott und der starren Konzentration des Gottesdienstes auf den einen Tempel ist, daß fortan der Jude überall in der Welt mit seinem Gott in Verbindung treten kann. Was vom Juden, gilt auch vom Proselyten, der wie im Sinaigesetz (o. S. 171f.) dem »Landeseingeborenen« religiös vollständig gleichgestellt wird. Aber der regelmäßige und korrekte Gang des Opferdienstes auf dem Tempelberg ist die Manifestation Gottes in der Welt, die Garantie seiner Gnade und seines Weilens unter seinem Volke und damit auch des kommenden Heils. Daher ist das Opfer wenn nicht mehr die unentbehrliche Grundlage so die Krone des Judentums, der Schlußstein seines religiösen Aufbaus. So kommt es, daß Ausgang und Mittelpunkt des Gesetzbuchs weder ethische Vorschriften noch religiöse Offenbarungen über das Wesen der Gottheit bilden, wie im Deuteronomium, sondern die Errichtung des Heiligtums, das in der Form der transportablen »Stiftshütte« in die mosaische Zeit zurückdatiert wird, und die detaillierte Beschreibung des Opferrituals und der Funktionen der Priester. So erklärt es sich aber auch, daß dies Gesetzbuch nicht aus dem Jerusalemer Kultus und den Bedürfnissen der Juden Palästinas hervorgegangen, sondern ihnen von den babylonischen Juden aufgezwängt worden ist271.

Den Anstrengungen der babylonischen Judenschaft ist es gelungen, die Organe des Reichs und den König selbst für ihre Ziele zu gewinnen. Alle Hebel der Überredung und Bestechung wird man in Bewegung gesetzt haben; außerdem verstand man es, dem König von der Macht und Bedeutung des Himmelsgottes von Jerusalem einen hohen Begriff beizubringen und ihm durch zuversichtliches, gottergebenes Auftreten zu imponieren (Ezra 8, 22). In einer Staatsratssitzung zu Anfang des Jahres 458 genehmigte [190] Artaxerxes I. die ihm vorgelegten Anträge und entsandte Ezra in einer Mission, »um über Juda und Jerusalem eine Untersuchung anzustellen nach dem Gesetz Deines Gottes, das in Deiner Hand ist«. Dieses Gesetzbuch, das er geschrieben hat und besitzt, wird von Reichs wegen als »Königsgesetz« für das Volk in der Provinz Syrien, d.h. für die Juden in Palästina, eingeführt. Den babylonischen Juden, die mitten unter Fremden sitzen, kann es nicht als rechtlich bindend auferlegt werden; wollen sie es freiwillig auf sich nehmen, so wird sie niemand daran hindern. In Palästina dagegen soll Ezra Richter einsetzen, die danach Recht sprechen, und jedem den Prozeß machen, der »das Gesetz Deines Gottes und das Gesetz des Königs nicht befolgt«. Dem Tempel wurde außer reichen Geschenken die Steuerfreiheit seiner Priester und Bediensteten verliehen, ferner Ezra die Erlaubnis gewährt, für ihn eine Kollekte in Babylonien zu veranstalten. Wer von den babylonischen Juden sich ihm bei dem Zug in die Heimat anschließen will, mag es tun. »Gepriesen sei Jahwe, der Gott unserer Väter«, ruft Ezra in dem Bericht über seine Tätigkeit aus, nachdem er die Urkunde mitgeteilt hat, »der derartiges dem König in den Sinn gab, den Tempel Jahwes in Jerusalem zu verherrlichen, und der mich Gnade finden ließ vor dem König und seinen Ministern und all den großen Beamten des Königs!«272

Im Hochsommer 458 ist Ezra mit seiner Karawane in Jerusalem eingetroffen. Etwa 1760 babylonische Juden hatten sich ihm angeschlossen, darunter auch eine Anzahl Lewiten und Tempeldiener, die schließlich für den Zug gewonnen waren. Er fand die Zustände für seine Aufgabe wenig günstig. Zwar die Masse war fromm genug; aber es ging ihr gar zu schlecht, und schließlich mußte sie doch zunächst leben. Die Vornehmen aber, Priester wie Laien, waren vollends von weltlichen Interessen beherrscht und standen in Verkehr und Eheverbindung mit den Götzendienern von Sichem und den übrigen Nachbarn. Dem mußte zunächst ein Ende gemacht, aller heidnischer Greuel gründlich [191] abgetan werden, ehe an die Einführung des Gesetzbuchs und seiner rigorösen Forderungen zu denken war. Vier Monate hat Ezra gewartet und das Terrain rekognosziert, bis er vorzugehen wagte. Dann ließ er sich öffentlich die Mitteilung der frevelhaften Ehebündnisse machen und spielte vor den Augen des zusammengeströmten Volks den Überraschten und Verzweifelten. Sein Jammern und seine Tränen erreichten ihren Zweck: den Sündern schlug das Gewissen, von den überraschten und isolierten Gegnern wagten nur wenige den Mund aufzutun. Mit überwältigender Mehrheit nahm eine aus dem ganzen Lande zusammenberufene Volksversammlung den Beschluß an, die fremden Weiber und die von ihnen gezeugten Kinder zu verstoßen (Dez. 458). Mit der Durchführung der Maßregel wurde eine von Ezra ausgewählte Kommission beauftragt, die während des Winters ihre Aufgabe erledigte. Am Ziel freilich war man damit noch nicht; die Gegner waren wohl eingeschüchtert, aber nicht überwältigt, und vor allem wollten die Samaritaner den ihnen angetanen Schimpf nicht dulden. Ein feindlicher Zusammenstoß stand zu erwarten; und so kam Ezra zu der Einsicht, daß er, ehe er weitergehen könne, zunächst für die äußere Sicherheit und Unabhängigkeit der Gemeinde sorgen müsse: er ging daran, die Mauern Jerusalems wieder aufzubauen273.

[192] Damit bot er den Gegnern die Handhabe zu seinem Sturz. Von dem Mauerbau stand in seiner Vollmacht nichts: hier konnte man einsetzen und ihm die Gunst des Königs entziehen, auf der allein seine Stellung beruhte. In einer Eingabe an den König machte Rechûm, der Statthalter von Samaria, unterstützt von der gesamten Bevölkerung seines Gebiets, ihm Mitteilung von dem Unterfangen, zu dem die Juden sich verstiegen hatten, die er ihnen über den Hals geschickt hatte, und setzte ihm die Gefahr auseinander, die dadurch dem Reiche drohe: Jerusalem sei immer eine Rebellenstadt gewesen, werde es befestigt, so werde es dem König keine Abgaben mehr zahlen und seine Herrschaft über Syrien aufs schwerste gefährden. Die Vorstellung wirkte: Artaxerxes, um seine Einkünfte besorgt, gab Befehl, den Mauerbau sofort einzustellen. Rechûm und die Samaritaner erfüllten ihn mit Freuden: die Tore wurden verbrannt, die Zinnen niedergeworfen, Breschen in die Mauern gelegt. Das halbvollendete Werk lag aufs neue in Trümmern274. – Damit war Ezras Autorität gebrochen. Er war keine geniale, nicht einmal eine bedeutende Persönlichkeit, völlig außerstande, die Massen zu elektrisieren und im Unglück aus sich selbst neue Kräfte zu schöpfen: über den starren Formalismus und die äußere Korrektheit, die sein Gesetzbuch beherrschen, reichte sein geistiger Horizont nicht hinaus. Der Anhang, den er aus Babylonien mitgebracht und im Lande gewonnen hatte, war nicht stark genug, und weitere Machtmittel besaß er nicht: im Namen des Königs konnte er nicht mehr drohen, wo dieser ihn desavouiert hatte. So erhielt die Gegenströmung [193] auch im Innern wieder Oberwasser, an eine Einführung des Gesetzes war nicht zu denken. Sein Gott, so schien es, hatte ihn völlig im Stich gelassen.

So wäre die Bewegung vielleicht gänzlich im Sande verlaufen und die jüdische Gemeinde nie aus dem Schwanken herausgekommen, hätte nicht das Reich noch ein zweites Mal eingegriffen. Ein jüdischer Mundschenk des Königs, Nehemia, wurde durch die Kunde von der Verwüstung Jerusalems, die ihm im Dezember 446275 einer seiner Brüder brachte, so ergriffen, daß es dem König auffiel. Als Nehemia ihm den Grund seiner Trauer erzählte, gewährte er ihm die Bitte, Jerusalem wieder aufzubauen, und entsandte ihn als Statthalter nach Judäa. Nehemia war ein klarer Kopf, der Menschen und Dinge richtig zu behandeln verstand, erfüllt von felsenfestem Glauben an die Lehren der heiligen Schriften, überzeugt, daß, was der Priester fordere, Gottes Wille sei, ohne weiter darüber zu grübeln, der echte Typus eines Laien, der berufen ist, die Macht der Kirche und des Priestertums zu begründen. Für die heilige Sache konnte er außer seiner energischen Persönlichkeit und seinem offenbar recht ansehnlichen Vermögen die Autorität des Königs in ganz anderer Weise einsetzen als dreizehn Jahre vorher Ezra. Ungesäumt ging er ans Werk. Am dritten Tage nach seiner Ankunft (Juli 445) rekognoszierte er bei Nacht den Zustand der Mauern und rief dann sofort die Häupter des Volks auf, mit dem Werk zu beginnen. Aus Stadt und Land strömte die Bevölkerung zum Mauerbau zusammen, Vornehme und Geringe; auch die Gegner der Reform, wie der Hohepriester Eljašîb, konnten sich der Bewegung nicht entziehen, nur wenige, wie die Magnaten von Teqoa', hielten sich zurück. Durch Verzicht auf alle ihm als Statthalter zustehenden Einkünfte, durch Durchsetzung eines allgemeinen Schuldenerlasses, der den vom Steuerdruck schwer getroffenen Armen Freiheit und Eigentum zurückgab, gewann er die Stimmung vollends für sich. Die [194] Samaritaner, an ihrer Spitze Sinuballiṭ von Betchoron (n.w. von Jerusalem)276 und Tobia »der ammonitische Knecht«, beide mit vornehmen Juden verschwägert, sowie Gošam »der Araber« (o. S. 133), hatten zunächst über das ohnmächtige Werk gehöhnt; bald begannen sie zu drohen, sie versuchten Unzufriedenheit zu erregen, mit Hilfe ihrer Gesinnungsgenossen in der Stadt und der Nachbarstämme, der Ammoniter, Araber, Ašdoditer, die Bauleute zu überfallen oder Nehemia in ihre Gewalt zu locken. Aber dieser ließ sich durch nichts anfechten und sicherte sich gegen einen Angriff; binnen 52 Tagen war die Mauer vollendet. Auch innerhalb der Gemeinde gingen die Wogen hoch. Noch einmal regte sich die messianische Hoffnung; Propheten traten auf, die bereit waren, Nehemia zum »König in Juda« auszurufen, ihn als Messias zu begrüßen – wie er glaubt, von den Gegnern aufgestellt; aber wahrscheinlich waren es ehrliche Fanatiker, die keine Ahnung hatten, daß ihr Tun nur den Erfolg haben konnte, das Gotteswerk zu vernichten. Doch für Nehemia bestand die Versuchung nicht, der ein Zerubabel sich nicht ganz hatte entziehen können; ruhig und sicher führte er die Mission zu Ende, mit der der König ihn betraut hatte.

Gleich nach Vollendung der Mauer berief Nehemia eine Volksversammlung, um für die Vermehrung der noch sehr geringen Bevölkerung der wiederhergestellten Stadt Maßregeln zu ergreifen. In dieser Versammlung wurde der Antrag gestellt, Ezra aufzufordern, sein Gesetzbuch herbeizubringen und zu verlesen (1. Tišri). Das geschah; während der nächsten Tage wurde die Verlesung fortgesetzt, das Laubhüttenfest nach den Satzungen des Priesterkodex gefeiert, und am 24. Tišri, nach einem großen Bußfest, die Urkunde unterzeichnet, durch welche sich das gesamte Volk feierlich zur Befolgung des Gesetzes verpflichtete, an der Spitze Nehemia und ein gewisser Sidqia (vielleicht der Vorsitzende des Rats), dann die Oberhäupter der Geistlichkeit und der Laien, die mit den Namen ihrer Geschlechter unterschrieben. Sie gelobten, kein [195] Ehebündnis mit den »Landbewohnern« einzugehen, am Sabbat und anderen Festtagen den Landbewohnern keine Waren abzukaufen, das Sabbatjahr und den Schuldenerlaß in demselben zu beobachten, endlich jährlich eine Kopfsteuer von 1/3 šeqel (0,4 Mark) an den Tempel zu zahlen, die Holzlieferungen für das Opferfeuer familienweise zu verteilen, an die Priester die Erstlinge von Frucht und Vieh und die Ehrenportion von Brot, Most und Öl, an die Lewiten den Bodenzehnten zu liefern, wie der Priesterkodex vorschreibt – die Lewiten haben wieder den Zehnten davon an die Priester abzugeben. Dadurch wird zugleich der regelmäßige Gang des Gottesdienstes und die materiell unabhängige Existenz der amtierenden Priesterschaft und des Kultuspersonals gesichert. Es bedarf kaum der Bemerkung, daß dieser entscheidende Akt auf Veranlassung und unter energischer Mitwirkung des Statthalters Nehemia vollzogen ist: er ist das Ziel, für das all sein Tun nur die Vorbereitung war. Aber mit Absicht hat er sich bei dem Vorgang selbst völlig zurückgehalten: nicht auf Befehl der Regierung, sondern freiwillig sollte das Volk das Gesetz Jahwes auf sich nehmen, das Ezra aus Babel mitgebracht hatte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 184-196.
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