Abfall des Festlands von Athen. Dreißigjähriger Friede

[582] Nach dem Frieden des Kallias konnte Athen aufatmen. Es mochte sich der Hoffnung hingeben, die Verluste der schweren Kriegszeit an Geld und Menschenleben in einigen Jahren vollkommen ausgleichen zu können. Eine aktive, alle Interessen des Staats fördernde innere Politik sollte die Ergänzung des Verzichts auf weitere Eroberungen bilden. Augenfällig trat das darin hervor, daß man jetzt auf Perikles' Betreiben die seit elf Jahren unterbrochenen Tempelbauten in größerem Stil wieder aufnahm. Die Voraussetzung war freilich, daß es gelang, auch in Griechenland den Frieden aufrechtzuerhalten und das in dem letzten Krieg Gewonnene zu behaupten. Man ließ sich denn auch durch Provokationen nicht zu unbesonnenen Schritten hinreißen. Als die Spartaner im Jahr 449 einen Zug nach Phokis unternahmen, um das delphische Heiligtum aus der Abhängigkeit von dem athenisch gesinnten phokischen Bund zu befreien und die Gemeinde Delphi [582] autonom zu machen, traten ihnen die Athener nicht wie 457 in den Weg. Aber bald nach dem Abzug der Spartaner stellte Perikles das alte Verhältnis und die Suprematie der Phoker wieder her669. Einige Zeit darauf jedoch brachen in Böotien Unruhen aus. Es ist begreiflich, daß die Böoter die Abhängigkeit von dem alten Feind nur ungern ertrugen und daß das Verhältnis Athens zu den Adligen nicht von Dauer sein konnte; nur mit Gewalt, mit Verfassungsänderungen und Verbannungen, ließ sich die Herrschaft Athens aufrechterhalten. Auch mochte ein Teil der Aristokraten die Unhaltbarkeit seiner Lage einsehen und den Rückweg in seine natürliche Stellung und den Bund mit Sparta suchen. Im Jahre 447 gelang es den verjagten Gegnern Athens, sich in Orchomenos festzusetzen; von hier aus gewannen sie eine Anzahl anderer Orte, namentlich das zu Orchomenos gehörige Chäronea. In Athen scheint man der Erhebung keine größere Bedeutung beigemessen zu haben; mit nur 1000 Mann und einer Anzahl Bundesgenossen zog Tolmides gegen sie aus. Auch glückte ihm die Einnahme von Chäronea; zu einem Angriff auf das feste Orchomenos dagegen reichten seine Kräfte nicht aus. Inzwischen hatten die Aufständischen aus Theben und dem übrigen Böotien und aus Lokris und Euböa Zuzug von Gesinnungsgenossen erhalten; bei Koronea überfielen sie die abziehenden Athener und brachten ihnen eine vernichtende Niederlage bei. Tolmides selbst fiel, mit ihm viele [583] der angesehensten Männer; was nicht erschlagen war, wurde gefangen. Der Aufstand ergriff ganz Böotien; seine Bewältigung war mit Athens Kräften kaum mehr zu erreichen. Denn zur Zeit der Schlacht bei Önophyta war Böotien zerrissen; jetzt aber war es geeint durch den Haß gegen den fremden Druck. Dazu kam das Bewußtsein, daß man Athen Verlusten, wie sie der letzte Krieg gebracht hatte, nicht wieder aussetzen dürfe, daß man daher einen schweren und wechselvollen Krieg unter allen Umständen vermeiden müsse. So entschloß man sich, gegen Rückgabe der Gefangenen ganz Böotien zu räumen; nur Platää hielt nach wie vor am Bund mit Athen fest670. Das übrige Böotien ist seitdem aufs neue zu einem Bundesstaat geeinigt671. Innerhalb des Bundes sind die Einzelstaaten souverän. Für die Bundeszwecke ist Böotien in 11 μέρη, d.i. etwa Kreise, geteilt; auf jeden dieser Kreise fallen ein Böotarch, 60 Mitglieder des Bundesrats – der also 660 Buleuten hat – und ebenso ein entsprechender Prozentsatz der Bundessteuer, der Bundesgerichte, der Einkünfte (Beute usw.). Jeder hat 1000 Hopliten und 100 Reiter zu stellen; das gibt ein Gesamtaufgebot von nominell 11000 Hopliten, 1100 Reitern, das natürlich in Wirklichkeit niemals vollständig erreicht ist. Von diesen 11 Kreisen fallen 4 auf Theben, 2 auf Orchomenos, 2 auf Thespiä, 1 auf Tanagra, während die drei Städte Haliartos, Lebadea, Koronea und ebenso Akraiphion, Kopä, Chäronea zusammen nur je einen Kreis bilden und daher auch nur je einen Böotarchen stellen, dessen Stelle im Turnus besetzt wird. Es gab also 10 souveräne Städte; von diesen ist Chäronea erst nach 424 hinzugekommen, vorher war es Orchomenos untertan. Offenbar haben es die Thebaner damals selbständig gemacht, um[584] ihren alten Rivalen zu schwächen. Die Verfassung war eine gemäßigte Oligarchie672, in der die Masse der Bürger keine politischen Rechte hatte, sondern nur die Besitzenden; es bestand also ein Zensus; wie derselbe gestaltet und das erforderliche Vermögen nachgewiesen wurde, wissen wir nicht. – Mit der Befreiung Böotiens fiel auch das Bündnis mit Phokis; zwar die phokischen Landstädte neigten immer zu Athen, aber Delphi und mit ihm der spartanische Einfluß gewannen jetzt aufs neue die Leitung des Stammbundes. An eine Behauptung von Lokris war vollends nicht zu denken673.

Die Niederlage bei Koronea und mehr noch der Verzicht auf jeden Versuch, sie wieder auszugleichen, haben dem Ansehen Athens einen unheilbaren Schlag versetzt. Man sah, daß man Athen zu Lande nicht mehr zu fürchten brauchte; der entscheidende Stoß, den zu führen Sparta bisher stets Bedenken getragen hatte, konnte kaum noch besonders gefährlich erscheinen. Der Wunsch, das attische Joch abzuschütteln, bestand überall; es kam nur darauf an, zusammenzuwirken und Athen zu überraschen674. Im Sommer 446 kündigten die Städte Euböas Athen den Gehorsam; eine Ansiedlung von attischen Kleruchen auf der Insel, die Tolmides vor einiger Zeit ausgeführt hatte (u. S. 672), mag hier die Erbitterung besonders gesteigert haben. Perikles ging mit dem Hauptteil des attischen Aufgebots hinüber, sie zu unterwerfen. Da empörte sich Megara, überfiel und massakrierte den Hauptteil der attischen Besatzung; der Rest rettete sich in den Hafen Nisäa. Sofort waren Truppen aus Korinth, Sikyon, Epidauros zur Stelle. Der Rest der attischen Bürgerwehr, drei Phylen, ging unter Andokides gegen [585] Megara vor, vermochte aber die Stadt nicht zu nehmen; Perikles mußte aus Euböa zurückgerufen werden. Aber jetzt rückte das Gesamtaufgebot der Peloponnesier unter König Pleistoanax heran und fiel in Attika ein. In der Eleusinischen Ebene standen sich beide Heere gegenüber; die Stunde der Entscheidung schien gekommen. Doch Athen hatte das dringendste Interesse, eine Feldschlacht zu vermeiden, bei der eine Niederlage so gut wie gewiß war675; und auch Plei stoanax und sein Ratgeber Kleandridas, der Feldherr aus dem arkadischen Kriege (o. S. 484), scheuten vor dem Kampfe zurück. Sie wußten, daß mit dem Siege Athen noch nicht bewältigt war, daß der Krieg sich noch jahrelang hinziehen, Athen ihnen im Peloponnes schwere Gefahren bereiten konnte; und eine Vernichtung Athens erstrebten sie nicht, nur die Wiederherstellung des Zustands vor 460. Dazu war Perikles bereit; in geheimen Verhandlungen gab er den spartanischen Führern bindende Versprechungen. Daneben sollen Pleistoanax und Kleandridas den Lockungen des Geldes, das Perikles ihnen sandte, ebensowenig haben widerstehen können wie einst Leotychidas676. Das ist sehr wohl möglich; dennoch aber geschah nur, was die Situation ergab und das wohlverstandene Interesse beider Staaten erforderte. Pleistoanax führte das Heer über den Isthmos zurück, Perikles konnte nach Euböa zurückkehren und die Städte, die jetzt jede Aussicht auf Unterstützung verloren hatten, zur Ergebung zwingen677. Daß der Rückzug ohne Kampf im Peloponnes große Erbitterung hervorrief, ist begreiflich; Pleistoanax und Kleandridas wurden in [586] Sparta wegen Bestechung verurteilt, der König abgesetzt – er fand im Heiligtum des Lykäischen Zeus in Arkadien ein Asyl.

Trotzdem hat Sparta an der von dem König und seinem Ratgeber vertretenen Politik festgehalten. Im Herbst 446 wurden die Friedensverhandlungen in Sparta eröffnet. Athen war bereit, wie im Jahr vorher auf Böotien, so jetzt auf Megara und die peloponnesischen Gebiete zu verzichten und seine Besatzungen aus Pagä und Nisäa sowie aus Trözen und Achaia zurückzuziehen. Darauf gingen die Peloponnesier ein, Sparta in der richtigen Erkenntnis, daß damit alles erreicht war, was seine Interessen forderten. Auch Korinth, die treibende Kraft im Krieg, erklärte sich zufrieden. In der Tat hatte es im wesentlichen erlangt, was es erstreben mußte, um selbständig existieren zu können. Zwar die Position der Messenier in Naupaktos mußte ihm unangenehm genug sein; aber im übrigen war die Freiheit des Korinthischen Golfs und damit die Verbindung mit seinen Besitzungen im Westen errungen, und die athenischen Besatzungen standen nicht mehr an seinen Grenzen, die unmittelbare Verbindung mit Böotien war wiederhergestellt. Überdies brauchte es den Frieden dringend; durch die Sperrung der Meere im Osten und Westen war sein Handel jahrelang (455 bis 450) fast brachgelegt worden und mußten seine Kräfte und Hilfsmittel nahezu erschöpft sein. Auf die von Athen gebotenen Bedingungen hin schien ein Auskommen möglich; daher hat Korinth noch nach Jahren, beim Samischen Aufstand, energisch zum Frieden geredet. – So wurde denn der Friede zunächst auf dreißig Jahre abgeschlossen – Friedensschlüsse auf ewige Zeiten waren den Griechen fremd, da sie die Bewegungsfreiheit der Staaten für alle Zukunft durch heilige Eide gebunden hätten; dagegen stand einer Verlängerung der Frist nach Ablauf des Termins nichts im Wege. Gegenseitig erkannte man den Bestand des Bundesgebiets an und verpflichtete sich, abtrünnige Bundesgenossen nicht zu unterstützen noch aufzunehmen; bisher neutrale Staaten dagegen mochten beitreten, welchem Bunde sie wollten. Auch Ägina blieb Athen überlassen, unter der Bedingung, daß es gegen Zahlung des Tributs autonom bleiben, d.h. daß Athen sich in seine inneren Verhältnisse nicht einmischen solle – neben der messenischen Ansiedlung [587] in Naupaktos war das der einzige Gewinn, den Athen aus dem langen Kriege behauptete. Zwischen beiden Bundesgebieten sollte freier Verkehr herrschen. Bei Streitigkeiten sollte man nicht zu den Waffen greifen, sondern ein Schiedsgericht berufen. Das Verhältnis zu Argos konnte jeder der beiden Kontrahenten nach Gutdünken regeln. Auf diese Bedingungen hin ist im dritten Jahre nach dem Abkommen mit Persien, im Winter 446/5, auch in Griechenland der Friede wiederhergestellt worden678.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 582-589.
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