Sizilien nach der Abwehr der Athener

[56] In Syrakus hat nach der Vernichtung des athenischen Angriffs zunächst Hermokrates wieder entscheidenden Einfluß gewonnen, ohne Zweifel gestützt durch Gylippos und die Peloponnesier; er setzte durch, daß man sich mit ansehnlicher Macht an der Fortführung des Krieges beteiligte. Aber im Frühjahr 412 verließ Gylippos mit seinen Truppen die Insel, und Hermokrates selbst führte die syrakusanische Flotte auf den ionischen Kriegsschauplatz (Bd. IV 2, 271). Dadurch gewannen die Demagogen aufs neue Raum. An ihrer Spitze stand jetzt Diokles120 (oder Eurykles?), der nach dem Siege gegen Gylippos und Hermokrates durchgesetzt hatte, daß die feindlichen Feldherrn hingerichtet und die Gefangenen in die Steinbrüche geworfen wurden. Den Massen, die die Strapazen der Belagerung ertragen und die Schiffe bemannt hatten, vindizierten sie das Verdienst des Sieges, jetzt sollten sie den Lohn davontragen. Auf Diokles' Antrag wurde die Verfassung umgeändert, natürlich nach dem Muster des besiegten Athen, die [56] volle Souveränität der Volksversammlung hergestellt, die Strategen, 10 an Zahl – vor dem attischen Kriege waren es 15 –, aus Leitern zu ausführenden Organen ihrer Beschlüsse gemacht, die Zivilämter durch das Los besetzt und zweifellos wie eine Besoldung für die Truppen, so auch Diäten für die Beamten eingeführt121. Schließlich konnte man gegen den der Menge längst verdächtigen Hermokrates vorgehen; zu Anfang des J. 410 wurde er abgesetzt und verbannt und an seiner Stelle drei Strategen von echt demokratischer Färbung an die Spitze der Flotte in Asien gestellt (Bd. IV 2, 321).

Durch Athens Angriff war Sizilien aufs neue unmittelbar in die allgemeine Politik hineingezogen; das wirkte weiter in der Unterstützung, welche Syrakus und Selinus ebenso wie einige unteritalische Städte (Bd. IV 2, 259) den Spartanern gewährten. Aber für die Insel selbst war der Kampf mit Athen nur eine Episode, die nichts Neues geschaffen, ja nicht einmal den Besitzstand verändert hatte. Alsbald waren ihre Spuren völlig verlöscht; man knüpfte da wieder an, wo man vorher stehen geblieben war. Syrakus, nach wie vor im Besitz der Feldmark von Leontini, setzte den Krieg gegen die Chalkidier von Katana und Naxos fort, die sich mit Hilfe der Reste des athenischen Heeres (Bd. IV 2, 254) seiner Angriffe so gut zu erwehren suchten wie es anging (Diod. XIII 56, 2). Agrigent, Gela, Kamarina hielten sich neutral. Selinus, mit Syrakus eng verbündet, nahm den Krieg gegen Segesta wieder auf. Überall wiegte man sich in voller Sicherheit und schwelgte im Genusse des Reichtums und eines raffinierten [57] Luxus. Aus der eben mit äußerster Not überstandenen Gefahr etwas für die Zukunft zu lernen, kam den Sikelioten nicht in den Sinn; weder eine gemeinsame Organisation irgendwelcher Art zur Abwehr gegen einen gemeinsamen Feind war vorhanden, noch hatten die einzelnen Städte ihre Wehrmacht kräftig entwickelt. Syrakus ließ die im Kriege gegen Athen geschaffene Flotte wieder eingehen bis auf etwa 40 Schiffe, von denen 25 den Spartanern zu Hilfe gesandt wurden; und auch sein Landheer entsprach in den folgenden Kriegen in keiner Weise dem, was es seiner Bevölkerungszahl nach hätte leisten können. Viel wichtiger war es, das lustige Spiel des Parteihaders fortzusetzen und die unumschränkte Freiheit zu sichern, wie ein jeder nach seinen Interessen sie verstand. Eine Gefahr von außen schien von keiner Seite zu befürchten; in Selinus und in Messana ließ man selbst die Stadtmauern verfallen. Um so vernichtender brach, im vierten Jahr nach dem Sieg über die Athener, die Katastrophe herein, bei der es sich nicht mehr wie damals um die politische Selbständigkeit der einzelnen Gemeinden, sondern um die Existenz des Griechentums auf der Insel handelte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 56-58.
Lizenz:
Kategorien: