Krieg in Ionien

[268] Im Frühjahr 412 sollte die peloponnesische Flotte in See gehen; aber aufs neue zeigte sich, wie wenig Sparta und seine Bundesgenossen ihren Aufgaben gewachsen waren. Von der großen Flottenrüstung, die man geplant hatte, war gar wenig aufgebracht. Im korinthischen Golf lagen alles in allem 39 Schiffe – später stieß noch der aus Syrakus zurückkehrende Gylippos mit 15 Schiffen zu ihnen, die dem bei Leukas lagernden attischen Geschwader glücklich entronnen waren. In Sparta hatte man von den verheißenen 40 Schiffen (s.S. 122) wenigstens 10 sogleich, als die See wieder offen war, unter dem Nauarchen Melanchridas nach Chios voraussenden wollen; als aber ein Erdbeben eintrat, reduzierte man dieselben auf 5 und ersetzte den Nauarchen durch Chalkideus, und auch dann vergingen noch Monate, bis dieser zum Auslaufen bereit war. Währenddessen wollte man, namentlich auf Betreiben des Agis, die Flotte von Korinth nach Chios und Lesbos schicken und brachte auch glücklich 21 Trieren über den Isthmos; aber inzwischen kamen die Isthmien heran, und die Korinther wollten den Gottesfrieden nicht stören und auch die Athener nicht ausschließen. So erfuhren diese durch ihre Festgesandtschaft, was im Werke war. Sie ließen sich von Chios 7 Schiffe als Geiseln stellen; und als dann die feindliche Flotte ausfahren wollte, wurde sie durch ein athenisches Geschwader mit starken Verlusten zurückgeworfen und an der Küste blockiert. Daraufhin wollte man in Sparta das ganze Unternehmen aufgeben. Da ist es Alkibiades gewesen, der, wieder durch Vermittlung des Endios, durchsetzte, daß er schleunigst, ehe die Kunde von der Niederlage sich verbreitete, mit Chalkideus und seinen 5 Schiffen in See gehen durfte (Hochsommer 412). Glücklich entging er den nachsetzenden Athenern unter Strombichides. Ehemals hatte sich [268] keine Hand gerührt, als Alkidas mit viel stärkerer Macht an der ionischen Küste erschienen war (s.S. 67); jetzt genügte dies kleine Geschwader, um überall die Insurrektion zu entfachen. Auf Chios hatten die Oligarchen alles vorbereitet; die Menge war völlig überrascht und ratlos, Chalkideus und Alkibiades stellten die Lage im günstigsten Lichte dar; so trat die Insel zu ihnen über. Erythrä und Klazomenä und bald auch Teos und Milet sowie Lebedos und Airai (Erai) folgten ihrem Beispiel. Überall nutzte Alkibiades die Verbindungen, die er früher als zukünftiger Regent Athens angeknüpft hatte (vgl. S. 203ff.), jetzt gegen seine Vaterstadt aus. Auch Ephesos, Phokäa, Kyme und überhaupt fast das ganze Festland von Ionien und Äolis ging den Athenern verloren; überall hielten die persischen Garnisonen ihren Einzug, an die Stelle der von Athen erhobenen Steuern traten die Abgaben an den Satrapen. Strombichides mit seinen 8 Schiffen war zu schwach, um gegen die ständig anwachsende Macht der Feinde etwas auszurichten, die schleunigst von Athen entsandte Verstärkung kam zu spät, um Milet zu retten, Amorges suchte vergeblich zu Lande Hilfe zu bringen, während Tissaphernes und seine Untergebenen und ebenso die Samier von Anaia (Bd. IV 1, 716) die Peloponnesier eifrig unterstützten. Tissaphernes schloß im Namen des Königs mit Sparta und seinen Bundesgenossen einen Vertrag, in dem diese die Rechte des Königs auf alle Gebiete, die ihm oder seinen Vorfahren gehört hatten, anerkannten und sich zu gemeinsamer Kriegsführung gegen Athen und gegen jeden Rebellen verpflichteten, ohne ihrerseits irgendein Äquivalent dafür zu erhalten; ihre Truppen zu löhnen, hatte der Satrap sich schon bei den Verhandlungen des Winters verpflichtet.

Auf die Kunde von diesen Vorfällen entschloß man sich in Athen, den Reservefonds von 1000 Talenten, der 431 festgelegt war, anzugreifen241. Mit möglichster Eile wurden die Schiffe in Dienst gestellt und wie sie fertig waren, abteilungsweise nach Ionien gesandt, [269] so daß sich hier alsbald 45 Trieren unter dem Kommando des Strombichides, Thrasykles, Diomedon, Leon zusammenfanden. Es gelang denn auch, den Feinden einige Verluste zuzufügen; der Hafen von Milet, in dem Chalkideus mit 25 Schiffen lag, wurde mit 20 Schiffen blockiert und Teos, das sich nur ungern den Feinden gefügt hatte, zurückgewonnen242. Aber der Hauptteil des Festlandes war verloren, und auch Samos war in Gefahr, verlorenzugehen. Da erhob sich, von Athen unterstützt, der Demos gegen die zu den Feinden neigenden Vornehmen, erschlug ihrer an 200, verbannte 400 andere und teilte ihren Besitz auf. Es war eine Revolution von derselben rücksichtslosen Brutalität wie 427 auf Korkyra. Die Verfassung wurde im radikaldemokratischen Sinne neugeordnet, die Adligen (Geomoren), die man noch im Lande duldete, aller bürgerlichen Rechte, ja sogar des Rechtes, mit Bürgerlichen Ehen zu schließen, entkleidet und dafür die alten Geschlechter in schematische Unterabteilungen der Bürgerschaft umgewandelt – die radikalste Umgestaltung der alten Blutsverbände, die je auf griechischem Boden vorgekommen ist243. Dadurch war die Insel für Athen dauernd [270] gesichert; von diesem wurde sie hoch geehrt und erhielt die volle Autonomie zurück, wie sie vor 440 bestanden hatte244.

Währenddessen war es den bei Korinth liegenden Schiffen gelungen, die attische Blockade zu brechen; der designierte spartanische Nauarch Astyochos, dem jetzt das Kommando über die gesamte Kriegsmacht in Asien übertragen wurde, erschien mit 4 Schiffen in Chios, und bald folgten 6 weitere. Schon vorher hatten die Chier begonnen, die Insurrektion nach Lesbos zu tragen; aber Leon und Diomedon brachten die Städte zur Abhängigkeit zurück. Dann gewannen sie Klazomenä245 wieder und begannen Chios anzugreifen und die reiche und gut kultivierte Insel, die seit dem ionischen Aufstande von keinem Feinde heimgesucht war, gründlich zu verwüsten; nur mit Mühe konnte Astyochos, der an dem gegenüberliegenden Festlande bei Erythrä stationiert war, den Rücktritt der Insel zu Athen hindern. Gleichzeitig kämpften Strombichides und Thrasykles erfolgreich gegen Milet – in einem Gefecht fand hier Chalkideus den Tod –; und bald traf eine neue weit stärkere attische Heeresmacht, 48 Schiffe, darunter allerdings ein Teil Transportschiffe, 1000 attische, 1500 argivische, 1000 bundesgenössische Hopliten unter Phrynichos, Onomakles und Skironides zu ihrer Unterstützung ein. Die Milesier, von peloponnesischen Truppen und Tissaphernes unterstützt, boten eine Landschlacht; aber sie wurden geschlagen, und die Athener konnten sich zur Belagerung der Stadt anschicken. Gelang es, Milet zu Fall zu bringen, so war das Unternehmen der Peloponnesier gescheitert und Athens Reich wiederhergestellt. Da erschien, eben noch zur rechten Zeit, eine neue Flotte von 55 Schiffen, 33 aus dem Peloponnes unter Therimenes, die jetzt endlich in See gegangen waren, und dazu 20 von Syrakus unter Hermokrates und 2 aus Selinus. Wie gefährdet die Lage war, [271] konnte ihnen nicht entgehen; Alkibiades, mit dem sie im Iasischen Meerbusen (auf der Südseite der milesischen Halbinsel) zusammentrafen, ermahnte sie dringend, alle Kräfte einzusetzen, um Milet und damit überhaupt die Sache der Verbündeten zu retten. Die Mehrzahl der athenischen Strategen war bereit, die Seeschlacht aufzunehmen; Phrynichos aber erklärte sich mit aller Energie dagegen. Ob man siegen könne, sei bei der starken Macht der Feinde sehr ungewiß, die Folgen einer Niederlage aber für Athen geradezu vernichtend, wo die Stadt eben mit Mühe eine den Feinden einigermaßen gewachsene Flotte aufgebracht habe; man müsse alles daransetzen, dieselbe intakt zu erhalten, und dürfe eine Schlacht nur liefern, wo die Umstände günstig und der Erfolg sicher seien. So war es in der Tat; mit der absoluten Seeherrschaft Athens, auf die vertrauend im Jahre 429 Phormio der Überzahl der Feinde mutig hatte entgegentreten dürfen, war es vorbei; augenblicklich stand Athen den Gegnern zur See kaum besser gegenüber wie schon seit Jahrzehnten zu Lande. Phrynichos setzte seine Ansicht durch; die Flotte schiffte die ans Land gesetzten Krieger ein und zog sich nach Samos zurück. Die Folge war allerdings, daß nicht nur die Möglichkeit einer Niederwerfung der Insurrektion jetzt definitiv verloren war, sondern auch der Bundesgenosse Amorges. Derselbe hatte sich, von Tissaphernes und seinen persischen und lykischen Truppen bedrängt, in die karische Seestadt Iasos geworfen, die bisher zum attischen Reich gehörte. Jetzt überrumpelten die peloponnesischen Schiffe den Hafen, nahmen Amorges gefangen und lieferten ihn und die gründlich ausgeplünderte Stadt an Tissaphernes aus. Seine Söldner aus dem Peloponnes nahmen sie in eigene Dienste und schickten sie unter Pedaritos auf dem Landwege den Chiern zu Hilfe (Okt. 412). Bald darauf wurde auch Knidos von Tissaphernes besetzt; ebenso waren jetzt Kaunos und andere karische Orte, die bisher an Athen Tribut gezahlt hatten, in seiner Gewalt. Die volle Konsequenz der Lage zogen die Argiver. Sie waren bereits erbittert, weil sie durch eigene Schuld in dem Treffen vor Milet eine schwere Schlappe erlitten hatten; jetzt sahen sie, daß an Athens Seite Erfolge nicht mehr zu erzielen waren. So kehrten sie nach Hause zurück. Das ist die letzte Hilfe, die Argos den Athenern geleistet hat; in den [272] nächsten Jahren begnügte es sich, der befreundeten Demokratie seine Sympathien zu bezeugen. Deutlich zeigte sich die Verkehrtheit einer Politik, welche ein Jahrzehnt lang alle anderen Interessen hintangesetzt hatte, um Argos zu gewinnen und mit seiner Hilfe die Peloponnesier niederzuwerfen. Vermutlich hat Argos alsbald mit Sparta Frieden geschlossen – dazu mußte dieses sehr bereit sein, um daheim Ruhe zu haben und alle Kräfte für den Krieg gegen Athen verwenden zu können246.

Zu Anfang des Winters247 erhielten die Athener eine neue Verstärkung von 35 Schiffen unter Charminos. Dadurch war ihre Überlegenheit zur See wiederhergestellt; sie konnten jetzt mit 74 Schiffen die peloponnesische Flotte bei Milet in Schach halten und zugleich mit 30 Schiffen und einem Teil des Hoplitenheeres ernstlich gegen Chios vorgehen. Strombichides setzte sich nördlich von der Hauptstadt in Delphinion fest und begann die Belagerung. In Chios herrschte eine schwüle Stimmung; die Sklavenscharen entliefen in Masse, die Menge war den Oligarchen, die sie ins Elend gebracht hatten, aufsässig, Pedaritos und seine Truppen erwiesen sich als wenig brauchbar. Der Nauarch Astyochos, der mit 20 Schiffen von dem Hauptquartier in Erythrä aus operierte, konnte nicht viel ausrichten: seine Versuche, Klazomenä und Lesbos zu gewinnen, scheiterten, die Chier und die übrigen Bundesgenossen wollten bei der jetzigen Notlage von weitergehenden Unternehmungen nichts [273] wissen. So kam es zu vollem Zerwürfnis; Astyochos weigerte den Chiern jede weitere Unterstützung und ging mit seinen Schiffen zur Hauptmacht nach Milet, während Pedaritos bittere Klagen über den unfähigen Admiral nach Sparta sandte. – Nicht viel besser sah es bei der Flotte in Milet aus. Die Operationen stockten hier fast vollkommen; von einer neuen Flotte von 12 Schiffen, darunter 10 von Thurii unter Dorieus (s.S. 259), wurde die Hälfte von den Athenern genommen. Wie gewöhnlich, wenn eine Macht den Hauptteil der Truppen stellt und die andere Subsidien zahlt, kam es sofort zu Zerwürfnissen zwischen den Verbündeten. Tissaphernes hatte in Sparta jedem Ruderer 1 Drachme Lohn in Aussicht gestellt; nach Ablauf eines Monats erklärte er, fort an nur die Hälfte zahlen zu wollen, weil Athen den fremden Matrosen auch nicht mehr zahle, und weil man die Mannschaften nicht durch zu reichlichen Sold verwöhnen und für den Krieg schlapp machen dürfe; im übrigen vertröstete er sie auf die vom König zu erwartende Entscheidung und die Gelder, welche dieser senden werde. In dieser Haltung wurde er bestärkt durch Alkibiades. Sparta hatte den athenischen Flüchtling verwertet, solange es galt, den Krieg vorzubereiten und seine Verbindungen in Kleinasien auszunutzen; jetzt wollte man sich des gefährlichen Mannes entledigen. König Agis war aufs höchste erbittert gegen den unbequemen Konkurrenten, der überdies seine Ehre geschändet hatte; durch Chalkideus' Tod (s.S. 271) hatte er seine Hauptstütze verloren; so erhielt Astyochos den Auftrag, ihn zu beseitigen, ehe er sich in Asien eine selbständige Macht schaffe. Aber Alkibiades hatte bereits den Tissaphernes durch den Zauber seiner Persönlichkeit umstrickt und fand jetzt bei ihm eine sichere Zuflucht. Er stellte ihm vor, daß es durchaus nicht in Persiens Interesse liege, Sparta auf Athens Kosten groß zu machen und ihm zu gestatten, sich an der asiatischen Küste dauernd festzusetzen; alsbald werde es dann den Anspruch auf Freiheit aller Hellenen erheben und Persien nur den alten Feind durch einen neuen noch gefährlicheren ersetzt haben. Man müsse vielmehr streben, daß beide sich nach wie vor die Gleichmacht hielten, Athen zur See, Sparta zu Lande das Übergewicht habe; dann könne Persien den einen Staat gegen den anderen ausspielen und während ihres Haders [274] möglichst viel für sich nehmen, zugleich aber werde der Satrap auf diese Weise unnötige und gefährliche Ausgaben sparen. In der Tat lag eine derartige Politik, mit Umsicht geführt, wie die weitere Entwicklung gezeigt hat, durchaus im Interesse Persiens; zugleich aber verfolgte Alkibiades dabei das Ziel, sich jetzt, wo er mit Sparta tatsächlich gebrochen hatte, wieder Athen zu nähern und, indem er ihm die Gewinnung Persiens und dadurch eine entscheidende Wendung des Krieges in Aussicht stellte, die Rückkehr in seine Heimat zu gewinnen.

Tissaphernes folgte in allem den Vorschlägen seines Ratgebers. Er erklärte, die Städte, die früher Athen einen so hohen Tribut gezahlt hätten, könnten jetzt für ihre Freiheit selbst etwas tun und Geld hergeben; er ließ sich nur nach langen Verhandlungen herbei, den Sold um ein geringes zu erhöhen, und zahlte die fälligen Raten nur unregelmäßig und unvollständig aus; er hielt die persische Flotte, die in Phönikien ausgerüstet wurde, zurück und hinderte die Peloponnesier, den Athenern, die wieder und wieder auf der Höhe von Milet erschienen, zur Schlacht entgegenzufahren. Die Griechen konnten wenig dagegen tun; viele ihrer Offiziere und Trierarchen waren von Tissaphernes und Alkibiades bestochen, Therimenes, der bis auf Astyochos' Ankunft das Kommando führte, war lau und ohne eigenes Interesse an der Sache. Das einzige, was er erreichte, war eine Neuredaktion des Vertrages, in dem die Verpflichtung der Spartaner, den Persern gegen jeden Rebellen Hilfe zu leisten, gestrichen und dafür die Verpflichtung des Königs zur Subsidienzahlung ausdrücklich ausgesprochen wurde. Der einzige, der energisch gegen den Satrapen auftrat, war Hermokrates. Auch als Astyochos selbst das Kommando übernahm, änderte sich wenig; nur mit Mühe war er dazu zu bringen, Vorbereitungen zur Unterstützung des hart bedrängten Chios zu ergreifen. Da traf gegen Ende Dezember eine neue Flotte von 27 Schiffen, die, um den Athenern zu entgehen, über Kreta gefahren war, in Kaunos, gegenüber von Rhodos, ein. Sie war auf Betreiben der Gesandten des Pharnabazos (s.S. 262) ausgerüstet, um den Krieg nach den hellespontischen Küsten zu tragen; ihr Führer, der Spartiate Antisthenes, hatte aber den Auftrag, vorher eine Kommission von 11 [275] Männern, mit Lichas an der Spitze, nach Milet zu bringen, welche die Beschwerden abstellen und Astyochos kontrollieren und eventuell absetzen sollte. Astyochos fuhr ihnen entgegen und lieferte unterwegs 20 attischen Schiffen unter Charminos, welche Antisthenes hatten abfangen sollen, bei Syme ein siegreiches Gefecht (vgl. Aristoph. Thesm. 804); dann vereinigte er die ganze Flotte der Peloponnesier, insgesamt 112 Schiffe (Thuk. VIII, 79), bei Knidos. Von hier ging er nach Rhodos hinüber und brachte die drei Städte der Insel zum Anschluß; die Athener kamen zu spät und konnten eine Seeschlacht nicht mehr erzwingen. Darüber war die unwirtlichste Jahreszeit (80 Tage, Anfang Januar bis Mitte März) herangekommen248; die Peloponnesier ließen etwa 20 Schiffe zur Deckung Milets zurück und bezogen mit den übrigen 94 Winterquartiere auf Rhodos, während die Athener sie von Kos und der an der rhodischen Küste gelegenen kleinen Insel Chalke aus vergeblich zum Kampf zu provozieren suchten. Gleichzeitig setzte Strombichides die Belagerung von Chios eifrig fort; der spartanische Kommandant Pedaritos fiel bei einem Sturm auf die attischen Festungswerke, die Stadt wurde zu Land und zur See eingeschlossen und hart bedrängt. Erst zu Anfang des Frühjahrs 411 gelang es dem Spartaner Leon, mit 12 Schiffen von Milet aus ihr zu Hilfe zu kommen, sich mit den Chiern zu vereinigen und ihnen durch ein nicht ungünstig verlaufendes Seegefecht etwas Luft zu schaffen.

Während dieser ganzen Zeit gingen die Verhandlungen zwischen den Spartanern und Tissaphernes einher. Lichas, das Haupt der Elferkommission, erklärte sich mit den beiden bisherigen Verträgen höchst unzufrieden; durch dieselben werde der Anspruch des Königs nicht nur auf Asien, sondern auch auf alle Inseln und sogar große Teile des europäischen Griechenlands anerkannt; das sei eine Schmach für Sparta, das doch gekommen sei, die Hellenen zu befreien. Wenn Tissaphernes keine besseren Bedingungen gewähre und überdies die Verbündeten mit leeren Versprechungen hinhalte, brauche man ihn überhaupt nicht; die Stellung der Peloponnesier sei jetzt stark genug und hinreichendes Geld bekäme man auch von[276] den Bundesgenossen. In der Tat erhielt man von Rhodos 32 Talente an Kontributionen, eine Summe, die freilich auch bei einem Solde von nur 3 Obolen für kaum mehr als einen halben Monat reichte. Der Satrap wurde durch diese Erklärungen nur in seinem Argwohn bestärkt und folgte um so mehr den Ratschlägen des Alkibiades; er zahlte nach wie vor höchst unregelmäßig und säumte noch immer mit der phönikischen Flotte. Statt dessen begann Alkibiades unter seiner Konnivenz zuerst insgeheim, dann offen Verhandlungen mit den Athenern. Astyochos vermochte nicht viel dagegen auszurichten; wollte er seine Mannschaften zusammenhalten und seetüchtig bleiben, so war er, was auch Lichas sagen mochte, dringend auf die Subsidien angewiesen, und überdies war er, wie man munkelte, von Tissaphernes bestochen. Die Spartaner fallen lassen wollte freilich der Satrap nicht; trotz aller Intrigen des Alkibiades waren die Unterhandlungen mit Athen nur Schein. Als die Gefahr wuchs, daß die peloponnesische Kriegsmacht entweder durch den Geldmangel zusammenbrechen oder sich, um sich Lebensmittel zu verschaffen, auf das persische Gebiet werfen werde, bequemte er sich gegen Ende des Winters wieder einmal zu zahlen und zugleich den Vertrag nach den Wünschen der Verbündeten abzuändern. Die neue Urkunde, in die, den Absichten der spartanischen Regierung entsprechend, der Form nach auch Pharnabazos aufgenommen wurde, beschränkte das Gebiet des Königs auf Asien und bestimmte, daß Tissaphernes den Mannschaften die Löhnung zu zahlen habe, bis die Flotte des Königs eintreffe; für die Zukunft stehe es den Spartanern und ihren Bundesgenossen frei, die Löhnung entweder selbst zu zahlen oder sich bis zum Ende des Krieges von Tissaphernes vorschießen zu lassen249. Der Satrap gab sich den Schein, als [277] wolle er jetzt mit Eifer in den Kampf eintreten. Aber Ernst war es ihm damit nicht; die phönikische Flotte ließ sich nicht blicken, und bald gerieten die Zahlungen aufs neue ins Stocken.

Mit Beginn des Frühjahrs 411 machte Astyochos einen Versuch, mit seiner gesamten Flotte Chios zu entsetzen; aber die Athener verlegten ihm den Weg. Keine der beiden Flotten fühlte sich stark genug, die Schlacht zu wagen; die Peloponnesier zogen sich nach Milet, die Athener nach Samos zurück. Dagegen wurde jetzt endlich ein erfolgreicher Anfang gemacht, die hellespontischen Küsten zu insurgieren; der Spartaner Derkylidas zog zu Lande nach Abydos und brachte dieses sowie Lampsakos zum Abfall. Auf die Kunde davon eilte Strombichides mit dem Hauptteil seiner Flotte von Chios nach dem Hellespont, eroberte wenigstens Lampsakos zurück und befestigte Sestos. Dadurch erhielt aber Chios vollends die Bewegungsfreiheit zur See zurück; Astyochos konnte daher die peloponnesischen Schiffe, die ihm zu Hilfe gekommen waren (s.S. 276), zurückholen und einen Angriff auf Samos versuchen (Juni 411). Aber die Athener, gelähmt durch innere Wirren, nahmen die Schlacht nicht an, und so kehrte Astyochos nach Milet zurück250. Inzwischen waren in Athen Veränderungen eingetreten, welche dem ganzen weiteren Verlauf des Krieges eine neue Gestalt gaben.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 268-278.
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