Kriegsrüstungen. Eintritt Persiens in den Krieg. Darius II.

[257] Der Untergang der athenischen Expedition nach Sizilien ist der entscheidende Wendepunkt der griechischen Geschichte. Alle bisherigen Kämpfe seit der Abwehr des persischen Angriffs hatten zu einem positiven Ergebnis nicht geführt und nur immer aufs neue das Gleichgewicht der Mächte wiederhergestellt. Jetzt aber hatte Athen die Hand nach der Herrschaft über die ganze Mittelmeerwelt ausgestreckt und damit selbst den Entscheidungskampf provoziert: die Katastrophe machte seinen Untergang unabwendbar. Es war ein Ereignis, das an Wucht die gleichartige, vor vierzig Jahren erfolgte Vernichtung der nach Ägypten entsandten Armee weitaus übertraf. Diesen Schlag hatte Athen überwinden können, weil die Gegner sich scheuten zuzugreifen und weil seine Macht daheim noch intakt war. Jetzt aber war es bereits durch einen langen Krieg geschwächt, die Seuche hatte den Bestand seiner Wehrkraft gewaltig vermindert, seine Finanzen waren fast erschöpft; und dazu stand der Feind dauernd inmitten seines Gebietes. Den Gegnern aber hatte das Unternehmen Athens die ganze Größe der Gefahren enthüllt, die ihnen drohten: noch vor einem Jahre schien ihnen selbst Syrakus und ganz Sizilien rettungslos verloren. Wollte man die Wiederkehr ähnlicher Gefahren vermeiden, so mußte man alle politischen und nationalen Bedenken hintansetzen und mit ganzer Kraft sich auf den herrschsüchtigen Staat werfen, mit dem, wie die Erfahrung gezeigt hatte, kein erträgliches Abkommen möglich war. Bisher hatte man an der Möglichkeit des Erfolges verzweifelt; jetzt schien er mit Leichtigkeit erreichbar. Athen war auf den Tod getroffen; allgemein herrschte die Überzeugung, daß die Stadt, welche in frevelhafter Vermessenheit ganz Hellas hatte knechten wollen, jetzt am Boden liege und in kürzester Frist auf Gnade und Ungnade [257] sich werde ergeben müssen. Auch die Lauen und Neutralen waren bereit, in den Kampf einzutreten, um an der Beute teilzunehmen und sich die Zukunft zu sichern. Im Bundesgebiet regten sich die Hoffnungen überall; sobald eine Gelegenheit sich bot, war man zur Empörung entschlossen, unbekümmert um die Gefahren, die etwa noch von Athen drohen mochten; was konnte es denn noch ausrichten, wenn seine Feinde nur ernstlich vorgingen?

Auch in Sparta waren endlich alle Bedenken geschwunden; man wollte jetzt mit voller Energie den Kampf bis ans Ziel fortsetzen, im Kampf mit der Demokratie sich als den Hort aller konservativen Interessen erweisen und so den Anspruch auf die Führerstellung über ganz Hellas durchsetzen. Daß dazu die Schöpfung einer starken Seemacht unentbehrlich sei, hatte man schon beim Ausbruch des Archidamischen Krieges gewußt; anders als damals wollte man jetzt auch damit Ernst machen. Gleich zu Anfang des Winters 413 zog König Agis von Dekelea aus nach Norden, um überall die Suprematie Spartas aufzurichten. Die Abhängigkeit der Phoker und Lokrer wurde gefestigt, Heraklea (s.S. 192) wieder besetzt und die umliegenden Völkerschaften, die Ötäer und Malier und die Achäer von Phthiotis, bisher Untertanen der Thessaler, gezwungen, Geiseln zu stellen und Spartas Oberhoheit anzuerkennen, ohne daß die Thessaler wagten, sich zur Wehr zu setzen227. Überall wurde zugleich Geld für die Flotte beigetrieben und den Bundesstädten die Stellung von Schiffen auferlegt. Im nächsten Frühjahr dachte man mit 100 Trieren in See gehen zu können: je 25 sollten Sparta und die Böoter stellen, 15 Korinth, ebenso viele die Phoker und Lokrer, der Rest wurde auf die kleinen peloponnesischen Gemeinden verteilt. Von den attischen Bündnern kamen zahlreiche Anerbietungen und Unterstützungsgesuche; mit Agis verhandelten Abgesandte von Euböa und Lesbos, mit der Regierung in Sparta Chios und Erythrä. Außerdem durfte man mit Sicherheit auf Unterstützung von Sizilien rechnen. In Syrakus wirkte Hermokrates, der zunächst wieder den maßgebenden Einfluß erlangt hatte, mit Eifer für eine energische Beteiligung am Kriege; man müsse den Bundesgenossen [258] im Mutterlande den Dank für die Rettung abstatten und der Wiederkehr einer ähnlichen Gefahr vorbeugen; zugleich hoffte er, so sich selbst die Grundlage für die Behauptung und Erweiterung seiner Stellung an der Spitze von Syrakus zu schaffen. Auch Selinus und mehrere italische Städte waren jetzt bereit, Sparta zu unterstützen, so Tarent, Lokri228 und vor allem Thurii229, wo jetzt die antiathenische Partei wieder ans Regiment gelangt war und Dorieus von Rhodos, der Sohn des berühmten Athleten Diagoras, der als Athenerfeind hier Aufnahme gefunden hatte (Bd. IV 1, 731, 2), eifrig für die Sache der Verbündeten wirkte. So konnte Sparta hoffen, im nächsten Feldzug den Hauptteil der hellenischen Welt unter seiner Führung zum Kampf gegen Athen geeinigt zu sehen.

Und nun fand sich noch eine andere und weit stärkere Macht, die bereit war, in den Krieg einzutreten: das war das Perserreich. – Die lange Regierung des ersten Artaxerxes war im Winter 425/4 zu Ende gegangen. So tatenlos und ergebnisarm sie war, bei den Untertanen und namentlich bei den Persern selbst ist die Herrschaft des »gerechten« Königs in gesegnetem Andenken geblieben230; zwei seiner Nachfolger haben bei der Thronbesteigung seinen Namen angenommen, um zu verkünden, daß sie es als ihre Aufgabe betrachteten, seine Zeit wieder herbeizuführen. Es wäre eine Entwürdigung des pflichtgetreuen ersten Beamten Roms, wollte man Kaiser Pius als Persönlichkeit dem gutmütigen und schwachen Herrscher von Susa vergleichen; aber die Zustände des Perserreiches unter Artaxerxes I. waren in der Tat denen des römischen Weltreiches unter den Antoninen gleichartig. Die Rebellion Ägyptens war siegreich bewältigt, die Konzessionen, die der König in Kleinasien den Athenern gemacht hatte, vom Standpunkt des Reiches aus kaum der Rede wert; von einzelnen Konvulsionen, wie dem Aufstand des Megabyzos in Syrien, abgesehen, genoß das Reich viele Jahrzehnte hindurch den tiefsten Frieden. [259] Aber dieser Friedenszustand war zugleich eine Erschlaffung der Kraft, ein Versinken in Lethargie; jede schöpferische Betätigung des Reiches hörte auf, selbst die Bautätigkeit der Könige kam fast völlig zum Stocken; und das herrschende Volk gewöhnte sich an ein behagliches Genießen, das an seinem Mark zehrte. Noch immer hat es zweifellos tüchtige persische Beamte gegeben; aber auch sie begnügten sich, die laufenden Geschäfte pflichtgemäß zu erledigen, neue Aufgaben und ein Fortschreiten auf der durch Kyros und Darius gewiesenen Bahn kannten sie nicht mehr. Vor allem aber lastete auf dem persischen Volk das Bewußtsein, daß ihm trotz aller Tapferkeit und allen Kriegsmutes in den Griechen eine militärisch überlegene Nation entgegengetreten sei, die im Felde Leistungen ausführen konnte, denen gegenüber die Perser versagten. Für jede größere Verwicklung der Zukunft war man darauf angewiesen, griechische Söldner anzuwerben; die Satrapen Kleinasiens haben das bereits unter Artaxerxes I. getan. So bereiteten sich unter ihm, wie im Römerreich unter den Antoninen, die Zustände vor, die dann unter seinen Nachfolgern unaufhaltsam zur inneren Zersetzung des Reiches führten.

Auf Artaxerxes I. war zunächst sein einziger legitimer Sohn Xerxes II. gefolgt; aber schon nach anderthalb Monaten wurde er durch einen seiner Brüder, als dessen Name Sekydianos oder Sogdianos angegeben wird, mit Hilfe einiger Eunuchen des Palastes umgebracht. Aber dieser fand keine allgemeine Anerkennung. Das Heer war von Anfang an mit ihm unzufrieden, zumal er den bisherigen Obereunuchen hinrichten ließ; sein Stiefbruder Ochos, Satrap von Hyrkanien, weigerte den Gehorsam und rüstete ein Heer, den Mord des legitimen Königs zu rächen. Bald traten der Reiterobert Arbarios, der Satrap von Ägypten Arxanes und andere hohe Beamte zu ihm über und setzten ihm die Königsmütze aufs Haupt. Der Usurpator, der nirgends festen Halt hatte, suchte sein Heil in Verhandlungen; Ochos umgarnte ihn, von seiner Schwester und Gemahlin Parysatis unterstützt, durch Versprechungen und Eidschwüre und ließ ihn umbringen (Herbst 424). Auch seine Helfershelfer, die Mörder des legitimen Königs, wurden hingerichtet. Ochos nahm bei der Thronbesteigung den Namen Darius II. an. [260] Aber zur Ruhe gelangte das Reich noch nicht; der leibliche Bruder des neuen Herrschers, Arsites, suchte sein Beispiel nachzuahmen und fand energische Unterstützung durch Megabyzos' Sohn Artyphios. Dieser hat den gegen ihn entsandten Feldherrn Artasyras zweimal geschlagen; dann aber wurde er besiegt und seine griechischen Söldner bestochen, ihn zu verlassen. Schließlich konnte man der Usurpatoren auch hier nur durch falsche Eide Herr werden; als sie sich im Vertrauen auf die zugesicherte Gnade ergeben hatten, wurden sie festgenommen und hingerichtet231.

In der äußeren Politik ist Darius II. zunächst den Wegen seines Vaters gefolgt. In den griechischen Händeln blieb er vollständig neutral. Auf die Anerbietungen Spartas ging er nicht ein; so wenig er daran dachte, die Hoffnungen der athenischen Demagogen zu erfüllen, so hat er doch mit einer athenischen Gesandtschaft unter Epilykos das Abkommen des Kallias erneuert (s.S. 109). Als dann Athen den Rebellen Amorges unterstützte (s.S. 234), hat er vermutlich auch diese Provokation zunächst ruhig hingenommen, wie so manche andere. Der Satrap von Sardes und Karien (erste und zweite Satrapie) Tissaphernes erhielt den Auftrag, Amorges lebend oder tot in die Hände des Königs zu liefern, und begann den Krieg mit den Truppen seiner Provinz. Energische Unterstützung fand er vor allem durch die Lykier unter ihrem König Cherĕi von Xanthos, dem Sohne des Harpagos, der seit langem (vgl. S. 46) den Athenern feind und deshalb in das alte Vasallenverhältnis zu Persien [261] zurückgetreten war232. Tatsächlich lag Tissaphernes dadurch bereits im Kriege mit Athen. Jetzt, wo die attische Macht vor Syrakus zusammengebrochen war, lag auch für das Reich kein Grund vor, warum es sich noch weiter zurückhalten und nicht beizeiten den Anteil an der Beute sichern sollte, der ihm von Rechts wegen zukam. So erhielt Tissaphernes und Pharnabazos, der Satrap von Daskylion (dritte Satrapie, vgl. Bd. IV 1, 141), von Darius den Befehl, den rückständigen Tribut der Küstenstädte einzuliefern, die sich unter Athens Schutz der Hoheit des Reiches entzogen hatten. Das Oberkommando wurde dem Tissaphernes übertragen (Thuk. VIII, 5, 4, vgl. Bd. IV 1, 69) und in Phönikien nach langer Unterbrechung wieder einmal eine große Flotte ausgerüstet. Wie die Satrapen [262] im übrigen ihre Aufgabe erfüllen wollten, blieb ihnen überlassen. Es war natürlich, daß beide sich an Sparta wandten, um die peloponnesische Flotte an ihre Küsten zu ziehen; sie versprachen dafür die volle Löhnung der Bemannung zu zahlen. König Agis und die Böoter planten einen Zug nach Lesbos und dem Hellespont; die spartanische Regierung aber, eifersüchtig auf die selbständige Stellung, die er in Dekelea gewonnen hatte, entschied sich für die Unterstützung des Tissaphernes. Mit diesem gingen die Gesandten von Chios zusammen, die 60 Schiffe in Aussicht stellten. Vor allem aber wirkte Alkibiades für ihn, der mit Agis zerfallen war – er hatte sich mit seiner Frau eingelassen – und die Leitung des Unternehmens in seine Hände bekommen wollte; er fand für seine Pläne vor allem bei dem Ephoren Endios Unterstützung. Man beschloß, im Frühjahr 40 Schiffe nach Ionien zu entsenden; Chios und Erythrä wurden insgeheim in den Peloponnesischen Bund aufgenommen. König Agis blieb nichts übrig, als sich zu fügen und die Expedition nach Euböa, Lesbos und dem Hellespont, für die er schon die Vögte ernannt hatte, bis auf weiteres zu vertagen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 257-263.
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