Erste Invasion der Karthager. Zerstörung von Selinus und Himera

[58] Die Segestaner hatten, um schlimmeren Gefahren zu entgehen, sich bereit erklärt, das streitige Grenzland an Selinus zu überlassen. Aber Selinus glaubte jetzt Größeres erreichen zu können; es wollte den alten Gegner, der die Athener nach Sizilien gezogen hatte, womöglich vernichten. Da blieb Segesta keine Wahl, als sich den Karthagern in die Arme zu werfen (410 v. Chr.). – Seit der Himeraschlacht hatte sich Karthago 70 Jahre lang von den Welthändeln ferngehalten und seine ganze Kraft dem Ausbau seines Reiches zugewandt. Die Vorgänge auf Sizilien hat man ohne Zweifel genau verfolgt; aber man mied jede Einmischung. Selbst die alten Bundesgenossen, die Elymer, hat man in ihren Kämpfen mit den Nachbarn ohne Unterstützung gelassen und geduldet, daß sie sich um Hilfe an Athen wandten (Bd. IV 1, 611), unbekümmert [58] darum, daß dadurch der karthagische Einfluß, der schon durch das immer intensivere Eindringen der griechischen Kultur namentlich in Segesta (Bd. IV 1, 612) geschwächt war, noch weiter eingeschränkt wurde. Man war zufrieden, daß die eigenen Besitzungen, die Inselstadt Motye mit dem gegenüberliegenden Küstenstrich, Panormos und Soloeis, unangetastet blieben, und pflegte im übrigen die Handelsbeziehungen; in allen Griechenstädten waren zahlreiche karthagische Kaufleute zu finden. Auch während des athenischen Krieges ließ man sich weder durch Athen noch durch Syrakus aus der Neutralität locken. Sollte ein Eingreifen nötig werden, so war dazu immer noch Zeit; einstweilen konnte man zusehen, wie die Rivalen sich gegenseitig aufrieben. Jetzt aber sah sich Karthago vor eine verhängnisschwere Entscheidung gestellt, der es nicht mehr ausweichen konnte. Daß eine Segesta gewährte Unterstützung den Krieg nicht nur mit Selinus, sondern auch mit Syrakus und den übrigen Griechen nach sich ziehen mußte, konnte kaum zweifelhaft sein. Sollte Karthago aus der reservierten Haltung heraustreten, die bisher so gute Früchte getragen hatte, und einen Krieg von gewaltigen Dimensionen beginnen, dessen Ausgang sich jeder Berechnung entzog? Durfte Karthago aber mit ansehen, daß mit Segesta der letzte noch selbständige einheimische Staat auf der Insel, der ihm im Notfall eine Stütze gewähren konnte – denn die noch unabhängigen Reste der Sikaner und Sikeler kamen dafür kaum in Betracht –, den Griechen in die Hände fiel? Gab es damit nicht zu, daß es sich diesen nicht mehr gewachsen fühlte, und provozierte so erst recht den Angriff auf die eigenen Besitzungen? Es ist begreiflich, daß die Entscheidung lange und heftig umstritten war; allgemein empfand man, daß, wie sie auch fallen möge, Karthago in eine neue Phase seiner Politik eintrat. In der Tat haben die sizilischen Händel den karthagischen Staat, nachdem er einmal den Kampf aufgenommen hatte, nicht wieder losgelassen; der Krieg, der jetzt begann, hat sich durch zwei Jahrhunderte fortgesetzt und nicht eher sein Ende gefunden, als bis die karthagische Macht vernichtet war und schließlich, ein halbes Jahrhundert später, auch die Hauptstadt selbst von dem Schicksal ihres Reichs ereilt wurde.

[59] Über die inneren Zustände in Karthago sind wir auch in dieser Zeit nur ganz dürftig unterrichtet. Wir sehen, daß das Haus Magos aufs neue zu Einfluß gelangt ist: Hannibal, der Sohn des im Exil zu Selinus gestorbenen Gisgo (Bd. IV 1, 649), steht als Suffet an der Spitze der Regierung. Er war schon ein älterer Mann, erfüllt von Haß gegen das Griechentum und zugleich von dem Wunsche, die Niederlage seines Großvaters Hamilkar an der Himera zu rächen. Er setzte durch, daß den Segestanern die erbetene Hilfe zugesagt und damit der Krieg im Prinzip entschieden wurde; ihm selbst wurde das Kommando übertragen. Er war nicht im Zweifel, daß der Krieg im großen Stile geführt werden müsse, und begann sofort umfassende Rüstungen. Indessen so weit wollte die Majorität offenbar noch nicht gehen; vielleicht fand sich doch noch ein Ausweg, den Krieg wenigstens zu lokalisieren. Eine Gesandtschaft von Karthago und Segesta ging nach Syrakus und trug diesem das Schiedsgericht in dem Streit zwischen Segesta und Selinus an, in der Hoffnung, dadurch seine Neutralität zu sichern – eine Maßregel, die sich deutlich als Ergebnis eines Kompromisses zwischen entgegengesetzten Tendenzen erweist. Auch in Syrakus hätte man den Krieg gern vermieden, konnte aber doch Selinus nicht preisgeben. Nach langen Debatten entschied man sich, das Schiedsgericht abzuweisen und an der Allianz mit Selinus festzuhalten, aber zugleich womöglich mit Karthago den Frieden zu wahren. Beide Staaten, Karthago wie Syrakus, befanden sich in ähnlicher Lage wie Athen bei den korkyräischen Händeln; aber in Syrakus fehlte ein Staatsmann wie Perikles, der die Dinge klar überschaut und das Notwendige sofort mit voller Energie ins Werk gesetzt hätte. So ließ der Staat sich willenlos treiben und war gänzlich unvorbereitet, als das Unheil hereinbrach122. Einstweilen, bis die Rüstungen vollendet waren, sandte Karthago nach Segesta eine Garnison von libyschen Truppen und nahm außerdem 800 kampanische Söldner in seine Dienste, welche Athen für den Krieg gegen Syrakus angeworben (Bd. IV 2, 229) und die sich seitdem auf der Insel herumgetrieben hatten. In Selinus war man voll Siegeszuversicht; die Stadtgemeinde von etwa 30000 Einwohnern fühlte sich jedem Feinde gewachsen. Als die Selinuntier dann freilich bei einem neuen Angriff auf Segesta von der Besatzung mit schweren Verlusten geschlagen wurden, wandten sie sich nach Syrakus um Hilfe, und diese wurde auch zugesagt. Aber weiter geschah gar nichts; nicht einmal die Stadtmauern wurden instand gesetzt, und in den übrigen Städten vollends war von ernstlichen Rüstungen keine Rede. Inzwischen hatte Hannibal ein Heer aufgebracht, das an Stärke die Gesamtmacht, mit der Athen den Krieg gegen Syrakus geführt hatte, noch übertreffen mochte, teils ausgehobene Libyer, Phöniker und Karthager, teils in Spanien geworbene Söldner; auch griechische Reisläufer hatten sich anwerben lassen123. Im Frühjahr 409 landete er unter dem Schutz von 60 Kriegsschiffen an der Westspitze der Insel beim Kap Lilybäum und rückte sofort in das Gebiet von Selinus ein. Der Landort Mazara wurde genommen, Selinus selbst eingeschlossen, sechs gewaltige Holztürme errichtet und die Sturmböcke gegen die Mauern geführt. In der Stadt gab es eine von [62] Empedion geführte Partei, welche immer vor dem Kriege gewarnt hatte und auch jetzt zur Unterwerfung riet; aber die Masse wollte davon nichts wissen und wehrte sich heldenmütig. Indessen die Hoffnung auf den von Syrakus verheißenen Entsatz erwies sich als eitel, und die schwachen Mauern hielten nicht lange stand. Nach neun Tagen drangen die Feinde durch die Bresche ein. In den Straßen und auf dem Markt tobte der Verzweiflungskampf; aber zu retten war nichts mehr. Die Karthager und ihre barbarischen Söldner mordeten, was ihnen in die Hände fiel, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht; nur den in die Tempel Geflüchteten wurde das Leben zugesichert, um diese um so gründlicher ausplündern zu können – Achtung vor den griechischen Göttern hatten die Karthager nicht124. 16000 Erschlagene wurden gezählt, 5000 Gefangene; entkommen waren 2600 Mann125, die zunächst in Agrigent Aufnahme fanden, dann aber durch Empedions Vermittlung von Hannibal die Erlaubnis erhielten, in die gründlich verwüstete und ihrer Mauern beraubte Stadt als zinspflichtige Untertanen Karthagos zurückzukehren.

Auf die Kunde von Hannibals Angriff hatten Syrakus und die übrigen Griechenstädte endlich eine Ahnung von der wahren Lage bekommen und zu rüsten begonnen; auch die Flotte, welche in Ionien mit den Spartanern zusammen operierte, wurde schleunigst zurückberufen (Bd. IV 2, S, 324). Die Syrakusaner stellten [63] 3000 Mann ins Feld, die unterwegs die Truppen von Gela und Agrigent an sich ziehen sollten; die Führung übernahm Diokles selbst, das Haupt der Demokratie. Er traf in Agrigent gerade gleichzeitig mit den Flüchtlingen aus Selinus ein. Ein Versuch, sich für die Stadt und die Gefangenen zu verwenden, wurde von dem karthagischen Feldherrn mit Hohn abgewiesen. Hannibal hatte seine nächste Aufgabe gelöst; jetzt wandte er sich zu dem Rachezuge gegen Himera, verstärkt durch Zuzüge der Sikaner und Sikeler, die das karthagische Heer als Befreier begrüßten. Auch hier gelang es alsbald, eine Bresche in die Mauer zu legen; aber die Himeräer, an Volkszahl den Selinuntiern etwa gleich und überdies durch Diokles' Truppen verstärkt, schlugen die Eindringenden zurück. Am nächsten Morgen unternahmen sie mit 10000 Mann einen Ausfall; die Belagerungsarmee, überrascht und verwirrt, wurde geschlagen und auf das Lager zurückgeworfen126. Aber bei der Verfolgung lösten sich die Reihen der Angreifer auf. Hannibal führte die intakte Reserve heran und warf die Himeräer unter schweren Verlusten zurück; eine Abteilung von 3000 Mann, die im Kampfe aushielt, wurde völlig aufgerieben. Jetzt war die Stadt nicht mehr zu halten; die einzige Rettung war ein schleuniger Abzug. Noch war die Einschließung zu Lande nicht vollendet und die See frei. Denn Hannibal hatte seine Flotte bei Motye liegenlassen, um sich nicht den Gefahren eines Seekampfes auszusetzen und zugleich, wie berichtet wird, um Syrakus nicht zu provozieren und womöglich neutral zu erhalten. Indessen mußte man hier immer befürchten, daß die karthagische Flotte plötzlich im Hafen von Syrakus erscheinen und die zur Verteidigung in keiner Weise ausreichend gerüstete Stadt überfallen werde. Um so mehr drängte Diokles zur Heimkehr. Gerade jetzt traf die aus Ionien abberufene syrakusanische Flotte von 25 Trieren vor Himera ein. So wurde bei Nacht eingeschifft, so viel die Trieren fassen konnten, während Diokles mit seinen Truppen und einem Teil der Weiber und Kinder zu Lande abzog; der Rest mußte versuchen, die Stadt zu halten, [64] bis die Flotte zurückkehrte. Hannibal hat die Abziehenden nicht angegriffen, dafür aber den Sturm auf die Mauern um so heftiger erneuert. Am zweiten Tage trafen die Schiffe wieder ein. Aber sie kamen zu spät; kurz vorher waren die Iberer in die Stadt eingedrungen, und das Morden hatte begonnen. Von den Gefangenen wurden die Weiber und Kinder in die Sklaverei geschleppt, 3000 Männer aber den Manen Hamilkars als Opfer geschlachtet. Auch die verhaßte Stadt sollte vom Erdboden verschwinden; sie wurde niedergebrannt und von Grund aus zerstört. Himera ist aus den Trümmern nie wieder erstanden; statt ihrer gründeten die Karthager im J. 407 bei den warmen Quellen zwei Meilen weiter westlich die Stadt Thermae (j. Termini), die mit Kolonisten aus Afrika besiedelt wurde. Den Krieg weiter fortzusetzen, war nicht Hannibals Absicht; im Triumph kehrte er mit der Beute nach Karthago zurück. Durch seine Erfolge hatte er sich den Staatsmännern und Feldherrn seines Hauses, die so lange in Karthago das Regiment geführt hatten, und selbst seinem großen Oheim Hanno ebenbürtig zur Seite gestellt; binnen drei Monaten127 hatte er zwei blühende griechische Städte vernichtet und für Karthago eine neue Provinz erobert. Denn erst durch ihn ist aus der karthagischen Oberhoheit über die drei Phönikerstädte auf der Insel ein wirkliches, fest organisiertes und tributzahlendes Herrschaftsgebiet (ἐπικράτεια) geworden.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 58-65.
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