Geschlechtscharakter

[235] Geschlechtscharakter heißt die Mann und Weib voneinander unterscheidende, vom Geschlecht abhängige Eigentümlichkeit der Menschen. So wie sich dieser Unterschied bisher aus der Natur und der Stellung von Mann und Frau in der Geschichte ergibt, ist er etwa folgender: Der Mann hat ansehnlicheren Knochenbau, stärkeres Muskelsystem, weitere Brust, größere Lungen, schärfere Umrisse und größere Maße des Körpers als das Weib. Der männliche Körper ist im ganzen großer, kräftiger, fester, zäher, eckiger, der weibliche dagegen kleiner, schwächer, weicher und runder. Diesem leiblichen Unterschied entspricht der seelische. Der Mann ist im allgemeinen unternehmender, begehrlicher, offener, aufstrebender und aufbrausender als das Weib, während dieses mehr in sich gekehrt, bescheiden, rücksichtsvoll, listig, verschlossen und ruhig ist. Beim Manne wiegt der Verstand, beim Weibe das Gemüt vor; jenen bezeichnet Universalität, dieses Individualität; der Mann steht den Dingen mehr aktiv, die Frau mehr passiv gegenüber; er kämpft für Freiheit, Recht und Wahrheit, sie für Sitte, Überlieferung und Schönheit; er ist energisch, produktiv, selbständig, sie hingebend, reproduktiv, anschließend. Er macht die Geschichte, sie lehnt sich an die Natur an; sein ganzes Seelenleben ist ausgeprägter als das ihre; er richtet sich aufs Allgemeine, Ganze, Große, während sie das Einzelne, Kleine hegt und pflegt. – Die moderne Frauenbewegung läßt diesen Unterschied nicht mehr gelten. Es ist auch zuzugeben, daß vieles, was als Geschlechtscharakter gegolten hat und noch gilt, viel mehr Produkt der sozialen Verhältnisse als der Natur ist. Das Weib fordert jetzt, dem Manne völlig gleich oder ebenbürtig zu werden. Führen diese Bestrebungen auf sozialem, pädagogischem und wissenschaftlichem Gebiet zum Ziele, so wird eine seelische Umstimmung des Weibes eintreten müssen, die auf alle Verhältnisse zurückwirken muß. Jedenfalls liegt in der Frauenfrage nicht nur eine soziale Frage, sondern auch eine Frage von großer kulturgeschichtlicher Tragweite vor. Es ist Tatsache, daß die Frau wohl, wie in den Zeiten des Bittertums, hie und da übertriebene Verehrung seitens des Mannes erfahren hat; aber ihre gerechte und von aller Schwärmerei freie Einschätzung hat sie trotzdem nicht gefunden. In der Kulturarbeit hat sie nur eine untergeordnete Nebenstellung einnehmen[235] und den Bahnen des Mannes folgen dürfen. Alles drängt dahin, ihr einen größeren Anteil zu gewähren. Prüfstein für die ganze Frauenarbeit wird aber sein müssen, ob sie imstande ist, der Kultur der Menschheit aus sich heraus etwas Neues zu geben. Soweit die Frauen nur den Bahnen der Männer folgen und einfach deren Bildungsformen auf sich übertragen, hat die Frauenbewegung nur einen beschränkteren Wert und kann nur als ein Akt der Gerechtigkeit angesehen werden. – Nach Aristoteles verhalten sich die Geschlechter wie Form und Stoff, wie Seele und Leib; den Mann vergleicht er dem Löwen, das Weib dem Panther. Jedes Geschlecht ist besonderen leiblichen und seelischen Krankheiten ausgesetzt, hat seine eigentümlichen Vorzüge, Schwächen und Leidenschaften. Der Mann ist mehr dem Zorn, der Wut und Raserei, das Weib der Lust, Eifersucht und Melancholie unterworfen. Vgl. Rousseau, Emile, Buch V. Jean Paul, Levana § 81 ff. W. v. Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Form; Über die männliche und weibliche Form. 1794. H. Lotze, Mikrokosmos III, S. 370f. Helene Lange, Die Frau (Zeitschrift).

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 235-236.
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