Das Wiedersehen am Brunnen

[308] Mündlich.


Es war einmal ein junger Knab,

Der hat gefreit schon sieben Jahr

Um ein fein Mädlein, das ist wahr,

Er konnt sie nicht erfreien.


»Ey komm den Abend junger Knab,

Wenn finstre Nacht und Regen ist,

Wenn niemand auf der Gasse ist,

Herein will ich dich lassen.«


Der Tag verging, der Abend kam,

Der junge Knab geschlichen kam,

Er klopfet leise an die Thür:

»Steh auf, ich bin dafüre.


Ich hab schon lang gestanden hier,

Ich stand allhier wohl sieben Jahr.«[308]

»Hast lang gestanden, das ist nicht wahr,

Ich hab noch nicht geschlafen.


Ich hab gelegn und hab gedacht,

Wo nur mein Schatz noch bleiben mag,

Er macht mir allzulang, zu lang,

Mir wird ganz angst und bange.«


»Wo ich so lang geblieben bin,

Das darf dir wohl gesaget seyn,

Bey Bier und Wein, wo Jungfern seyn,

Da bin ich allzeit gerne.«


Es war wohl um die Mitternacht,

Der Wächter fing zu läuten an:

»Steh auf, wer bey Feinsliebchen liegt,

Der Tag kommt angeschlichen.«


Das Bürschlein auf die Leiter sprang,

Und schaut die Stern am Himmel dicht:

»Ich scheide nicht bis Tag anbricht,

Bis alle Sterne schwanden.«


Er sah das Morgensternlein nur,

Als sich der Knab von ihr gewandt,

Das Mägdlein Morgens früh aufstand.

Ging an den kühlen Brunnen.


Begegnet ihr derselbig Knab,

Der Nachts bey ihr geschlafen hat,

Viel guten Morgen boten hat:

»Gut Morgen mein Feinsliebchen.[309]


»Wie hast geschlafen heute Nacht?«

»Ich hab gelegn in Liebchens Arm!

Ich hab geschlafen, daß Gott erbarm,

Mein Ehr hab ich verschlafen!«


Quelle:
Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Band 1, Stuttgart u.a. 1979, S. 308-310.
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