[Die Abendwinde wehen]

[567] Die Abendwinde wehen,

Ich muß zur Linde gehen,

Muß einsam weinend stehen,

Es kommt kein Sternenschein;

Die kleinen Vöglein sehen

Betrübt zu mir und flehen,

Und wenn sie schlafen gehen,

Dann wein' ich ganz allein!

»Ich hör' ein Sichlein rauschen,

Woll rauschen durch den Klee,

Ich hör' ein Mägdlein klagen

Von Weh, von bitterm Weh!«


Ich soll ein Lied dir singen,

Ich muß die Hände ringen,

Das Herz will mir zerspringen

In bittrer Tränenflut,

Ich sing' und möchte weinen,

So lang der Mond mag scheinen,

Sehn' ich mich nach der Einen,

Bei der mein Leiden ruht![567]

»Ich hör' ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch den Klee,

Ich hör' ein Mägdlein klagen

Von Weh, von bitterm Weh!«


Mein Herz muß nun vollenden,

Da sich die Zeit will wenden,

Es fällt mir aus den Händen

Der letzte Lebenstraum.

Entsetzliches Verschwenden

In allen Elementen,

Mußt' ich den Geist verpfänden,

Und alles war nur Schaum!

»Ich hör' ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch den Klee,

Ich hör' ein Mägdlein klagen

Von Weh, von bitterm Weh!«


Was du mir hast gegeben,

Genügt ein ganzes Leben

Zum Himmel zu erheben;

O sage, ich sei dein!

Da kehrt sie sich mit Schweigen

Und gibt kein Lebenszeichen,

Da mußte ich erbleichen,

Mein Herz ward wie ein Stein.

»Ich hör' ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch den Klee,

Ich hör' ein Mägdlein klagen

Von Weh, von bitterm Weh!«


Heb Frühling jetzt die Schwingen,

Laß kleine Vöglein singen,

Laß Blümlein aufwärts dringen,

Süß Lieb geht durch den Hain.

Ich mußt' mein Herz bezwingen,

Muß alles niederringen,

Darf nichts zu Tage bringen,[568]

Wir waren nicht allein!

»Ich hör' ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch den Klee,

Ich hör' ein Mägdlein klagen

Von Weh, von bitterm Weh!«


Wie soll ich mich im Freien

Am Sonnenleben freuen,

Ich möchte laut aufschreien,

Mein Herz vergeht vor Weh!

Daß ich muß alle Tränen,

All Seufzen und all Sehnen

Von diesem Bild entlehnen,

Dem ich zur Seite geh'!

»Ich hör' ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch den Klee,

Ich hör' ein Mägdlein klagen

Von Weh, von bitterm Weh!«


Wenn du von deiner Schwelle

Mit deinen Augen helle,

Wie letzte Lebenswelle

Zum Strom der Nacht mich treibst,

Da weiß ich, daß sie Schmerzen

Gebären meinem Herzen

Und löschen alle Kerzen,

Daß du mir leuchtend bleibst!

»Ich hör' ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch den Klee,

Ich hör' ein Mägdlein klagen

Von Weh, von bitterm Weh!«


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 567-569.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Märchen / Ausgewählte Gedichte (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon