Am zweiten Sonntage nach Ostern

[624] Ev.: Vom guten Hirten.


Ein guter Hirt läßt seine Schafe nimmer!

O wehe, Hirt! den ein verkümmert Lamm

Einst klagend nennen wird mit Angstgewimmer,

Ein blutend wundes, eins voll Wust und Schlamm.

Was willst du sagen? Schweig!

Dein Wort ist tot, der Stirne Zeichen Kains gleich.


Weh, Fürsten euch! die ihr des Volkes Seelen

Gen Vorteil wägt und irdisches Gedeihn.

Weh, Eltern! denen Kindes glänzend Fehlen

Weit lieber ist als Einfalt sonder Schein.

Ihr warbt euch das Gericht;

Sprecht nicht von Ehre! eure kennt man drüben nicht!


Hausväter, wehe! die ein dienend Wesen

Nur an sich nahmen wie gedingten Leib;

Unwürdig seid zu Hirten ihr erlesen

Freundlosem Manne, unberatnem Weib.

Habt ihr gewußt und schwiegt;

Seht, jeder Flecken brandig an der Hand euch liegt!


Und wehe, wehe allen! deren Händen

Ward anvertraut ein überschwenglich Gut.

Weh, Lehrer euch! die Herzen, leicht zu wenden,

Vergiftet habt mit Hohn und Übermut.

Die Pfund' euch vorgestreckt,

Nicht wohl vergrubt ihr sie, habt sie mit Rost befleckt.
[624]

Doch bist du frei? darfst du so kühn denn sprechen

Das Bannwort über tausend Menschen aus?

Wem Kron' und Macht, wem Haus und Hof gebrechen,

Schließt ihn die Pflicht von ihren Schranken aus?

Denk nach! schwer ist die Frag';

Um dein' und fremde Seele gilt's, denk nach!


Wenn Kinderohr an deinen Lippen hänget,

Wenn Kinderblick in deinen Augen liest,

Wenn jedes kecke Wort, das vor sich dränget,

Wie glühend Blei in zarte Ohren fließt:

Bist du dann nicht der Hirt?

Ist dein die Schuld nicht, wenn das arme Lamm verirrt?


Und wenn ein schwach Gemüt, ein stumpfes Sinnen,

Neugierig horcht auf jedes Wort von dir,

Um alles möchte Gleichheit sich gewinnen,

Aufzeichnet jede Miene mit Begier:

O, spricht nicht dies Gesicht:

Ich acht' auf dich, bei Gott verdirb mich nicht?


Hast du mir Herr an diesem Tag erschlossen,

Wem nie so ernst zuvor ich nachgedacht,

So knie ich denn in Flehen hingegossen:

Hier ist der Wille, gib mir nun die Macht!

Der Sinn so rasch und leicht –

Leg deine schwere Hand auf ihn, bis er entweicht!


Gewitter kannst mit deinem Hauch du hemmen,

Aus dürrem Sande Palmeninseln ziehn;

O hilf auch mir den wilden Strom zu dämmen,

Laß nicht an meiner Stirn das Kainszeichen glühn

Und steht vielleicht es dort,

Nimm meine Tränen Herr und lösch es fort!
[625]

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 624-626.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon