Am fünften Sonntage nach Ostern

[629] »Ihr sollt in meinem Namen bitten.« – »Jetzt wissen wir, daß du alles weißt.«


In seinem Namen darf ich beten,

Er hat es selber mir gesagt,

Mit seinem Gnadenstempel treten

Vor ihren Schöpfer darf die Magd.

O süßes Anrecht mir gegeben!

O Zuversicht, die ihm entsprießt!

Wie weiß ich heut von keinem Beben,

Wo mich sein Sonnenschein umfließt!


So tret' ich denn in Jesu Namen,

Mein Schöpfer, vor dein Angesicht;[629]

Wo stehn die Blinden und die Lahmen,

Dort ist mein Platz und mein Gericht.

Und bin ich der Geringsten eine,

Die knieen unter seinem Schild:

Für alle, alle ist ja deine

So überreiche Hand gefüllt.


Vertrauend will ich zu dir nahen,

Und spräch' auch Törichtes mein Mund,

Nur Gnädiges werd' ich empfahen,

Du wirst mir geben was gesund.

Ob schwach und irrend die Gedanken,

Vertrauend bring' ich sie dir dar;

Und ziehen wirst du selbst die Schranken,

Und treu mein Bestes nehmen wahr.


Ich bitte nicht um Glück der Erden,

Nur um ein Leuchten nun und dann,

Daß sichtbar deine Hände werden,

Ich deine Liebe ahnden kann;

Nur in des Lebens Kümmernissen

Um der Ergebung Gnadengruß:

Dann wirst du schon am besten wissen,

Wie viel ich tragen kann und muß.


Auch nicht um Ruhm will ich dich bitten,

Dem meine Schultern viel zu schwach;

Nur in der Menschenstimmen Mitten

Mir bleibe das Bewußtsein wach,

Daß, wie die Meinung kreist und rennet,

Doch einer ist, der nimmer irrt,

Und jedes Wort, das ihn nicht kennet,

Mich tausendfach gereuen, wird.


Gesundheit! teures Erdenlehen,

Ach! schmerzlich hab' ich dich entbehrt![630]

Doch nur um dieses mag ich flehen:

Die Seele bleibe ungestört;

Daß nicht die wirbelnden Gedanken

Der kranke Dunst bezwingen mag,

Daß durch der bängsten Nebel Schranken

Ich immer ahnde deinen Tag.


Viel warme Liebe hält umfangen

Dies öde Ich zu süßem Schmerz

Und läßt die Sühne nicht gelangen

An mein nach Strenge dürstend Herz.

O schütze mich vor jener Milde,

Die meinen Mängeln viel zu still;

Halt du den Spiegel mir zum Bilde,

Wenn Freundes Rechte zögern will.


Ich möchte noch um vieles bitten,

Doch besser schweigend knie ich hier;

Er, der für mich am Kreuz gelitten,

Mein milder Anwalt, steht bei mir.

Ich wandle stets in Finsternissen,

Er war es stets der Strahlen warf.

Der alles weiß, sollt' er nicht wissen

Was seine arme Magd bedarf?


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 629-631.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon