Am elften Sonntage nach Pfingsten

[658] Ev.: Jesus weint über Jerusalem.

Zu derselben Zeit, da Jesus nahe an Jerusalem kam, sah er die Stadt an, und weinte über sie, und sprach: »Wenn du es erkenntest, was dir zur Rettung dient, und zwar an diesem deinem Tage, nun aber ist es vor deinen Augen verborgen.«


Mein Jesus hat geweint um seine Stadt,

Ach, auch gewiß um mich hat er geweinet;

Wußt' er nicht damals schon, wie trüb und matt,

Wie hülflos meine Seele heut erscheinet?

Von allem was die heil'ge Bibel trägt

Hat nichts so tief, so rührend mich bewegt.


O, könnt' ich seine teuren Tränen nur

In einem Kelche, einem Tuche fassen,

Wie er Veroniken die heil'ge Spur

Von seinem blut'gen Antlitz wollte lassen;

Sie war die Hochbegnadete vom Herrn,

Doch auch der ärmste Bettler träumt ja gern!


Zu solchem Kelche gäb' ich freudig her

Was ich an kleinen Schätzen mag besitzen;

Von meinem Golde würd' er reich und schwer,

Und meine Edelsteine sollten blitzen.

O zürne, Herr, nicht meiner Albernheit,

Zum Kinde macht mich deine Güte heut!


»Weh wüßtest du, was dir zur Rettung ist!«

Ja wüßt' ich es, wohl wär' es mir zum Frommen!

Doch du, du weißt es ja mein Jesus Christ,

Und nur von dir kann mir die Kunde kommen,

So rede denn, du meines Herzens Hort!

Ich stehe hier und horche auf dein Wort.


Fürwahr ich muß in deinem heil'gen Buch

Viel mehr nach deiner Liebe Zeichen suchen,[658]

Als wo dein Eifer spricht und, weh! dein Fluch!

Ich knicke wie ein Halm, hör' ich dich fluchen;

Nicht heilsam aufgerüttelt, todesmatt

Lieg' ich am Grunde wie ein dürres Blatt.


Ein saftlos Erdreich bin ich, dem nicht mag

Des Kalkes Brand, der Asche Beize taugen;

Ein dürrer Sand treib' ich dem Winde nach:

So will ich deine Himmelstropfen saugen,

Und in dem Tranke gibst du mir vielleicht

Was meinem irrenden Bewußtsein reicht.


Gibst mir ins Herz was ich beginnen soll,

Ob trauernd stehn, ob hoffend fürder schreiten,

Die Gnade ist ja nicht der Stärke Zoll,

Auch zu dem Siechen mag sie niedergleiten.

Du der des Allerschwächsten Schöpfer bist,

Hast auch für ihn ein Heil, mein Jesu Christ!


Drum, wenn die Wolke wieder mich umgibt

Und fast verzweifelnd meine Arm' ermatten,

Dann will ich denken, daß er hat geliebt,

Und meine Wimper heben durch die Schatten.

O meine Seele! sei nicht so versteint,

Du weißt es ja, er hat um dich geweint!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 658-659.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anonym

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Die vorliegende Übersetzung gibt den wesentlichen Inhalt zweier chinesischer Sammelwerke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert wieder, die Aufzeichnungen über die Sitten der beiden Vettern Dai De und Dai Schen. In diesen Sammlungen ist der Niederschlag der konfuzianischen Lehre in den Jahrhunderten nach des Meisters Tod enthalten.

278 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon