An Belinden

Es hörte diese Zelle

Noch nie der Liebe Gruß,

Und die geweihte Schwelle

Betrat kein schöner Fuß.


An öden Mauern gehen

Gespenster, blaß und stumm,

In sich gehüllt, und sehen

Nach mir sich warnend um.


Ach, aber ach! Belinde,

Dein Bildniß folgt mir nach,

Dein Bildniß, welche Sünde!

Ins fromme Schlafgemach.


Statt heiliger Gesänge,

Statt Hymnen, tönet hier

Durch lange dunkle Gänge

Nur deine Stimme mir.
[262]

An jene Finsternisse

Denk' ich in dieser Nacht,

Als unsre letzten Küsse

Die Liebe selbst bewacht.


Der du den Tempel schützest,

Mit Bischöflichem Stab

Hoch auf Altären sitzen,

Komm, Heiliger! herab1,


Und strafe das Verbrechen

Getreuer Zärtlichkeit,

Wenn einen Kuß zu rächen

Dir Lieba nicht verbeut2.


O denke, welch ein Feuer

Im Busen dir gebrannt,

Als mit dem keuschen Schleyer

Die Nonne vor dir stand;
[263]

Als du den Schleyer küßtest,

Und an zu seufzen fingst,

Und für die Sünde büßtest,

Und wieder sie begingst!


Wie war sie deinen Blicken,

O wie so himmlisch schön,

Du wolltest, voll Entzücken,

Nach ihr noch sterbend sehn;


Mit ihr zugleich verwesen,

An ihrer Seite ruhn3;

Was Lieba dir gewesen,

Ist mir Belinde nun.

Fußnoten

1 Bonifacius ist eigentlich Stiftspatron: Mauritius nur der Heilige der Kirche, die sonst nicht zum Stifte gehörte.


2 Mit andern Frauenspersonen ließ Bonifacius sie aus England kommen, um den Frauenklöstern vorzustehen. Man beschuldigt ihn einer allzugroßen Vertraulichkeit mit ihr.


3 Er äußerte wirklich diesen Wunsch. S. den Wilibaldus in vita Bonifacii, c. 8.


Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 1, Zürich 1819, S. 257-258,262-264.
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