98.

Kenne dich selbst

[626] Frey von eigner Lieb und Gunst,

Sich von aussen und von innen

Kennen, ist das beste künnen

Und passirt für alle Kunst.[626]

Andrer Leute Mängel richten,

Seine schlichten,

Tieff zu andren sehen ein,

Ihme selbsten fremde seyn,

Taug mit nichten.

Viel zu zärtlich buhlt ihm der,

Der sich in sich selbst verliebet,

Daß er alles günnt und gibet

Ihm, was sonsten andrer wär,

Der ihm nichts nicht ab kan schlagen

Zum behagen,

Der sich, wie er sich gebildt,

Wann er nicht bey andren gilt,

Wil beklagen.

Andrer Mann hat auch ein Haupt,

Sein Gehirn und sein Gemercke;

Wie? wann ihm auch deine Wercke

Durch zu suchen wär erlaubt?

Wer die Zung auff Hohn außstrecket,

Der erwecket

Einen, der den Kopff hebt auff

Und ihm auch für seinen Lauff

Lichter stecket.

Wem der Himmel was geschenckt,

Dencke nicht, er seys alleine;

Andrem ist von solchem Scheine

Auch vielleicht was zugelenckt.

Viel ist manchem zugezehlet;

Viel noch fehlet,

Daß er noch nicht alles hat:

Gott hat keinen ohne Rath

So gewehlet.

Quelle:
Friedrich von Logau: Sämmtliche Sinngedichte, Tübingen 1872, S. 626-627.
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Die tapfere Wahrheit. Sinngedichte. Insel-Bücherei Nr. 614
Sinngedichte / Von Logau, Friedrich (German Edition)