Das andere Lied

[259] Salomon.


Wie die Rose pflegt zu stehn

In den hohen Saronswäldern,

Wie die Lilie auff zu gehn

In denselben grünen Feldern.

Wann die Sonne zeiget sich,

Also bin in gleichen ich.


Salomon.


Wie der güldnen Rosen Zier

Unter scharpffen Dörnern blühet

Und für ihnen ragt herfür;

Wie ihr schöner Glantz aussihet,

So muß meiner Liebsten Schein

Unter andern Töchtern seyn.


Die Sulamithinn.


Wie ein Oepffelbaum der Frucht

In dem reichen Herbste treget

Für den Bäumen wird gesucht

Die man ohne Nutzen heget;

So weit blickt deß Liebsten Zier

Für den andern Söhnen für.


Was ist besser, als daß ich

Wann mich brennt die Sommerhitze

Seiner Frucht gebrauche mich,

Unter seinem Schatten sitze?

Dann zu meiner Kehlen Lust

Ist mir Süssers nichts bewust.


In die Keller unterhin

Will er mich zum Weine führen;

Daß ich frey und sicher bin

Deckt er mich mit Liebspanieren,

Seine treue Liebe macht

Daß mein Sinn deß Glückes lacht.


Wo der Wein darinnen steht

Stützet mir die Legel unter,

Dann mein Hertze das vergeht.

Machet mich mit Oepffeln munter,

Liebes-Kranckheit kömpt mich an,

Daß ich nicht mein selbst seyn kan.


Er hat seine lincke Hand

Unter meinem Häupte liegen,

Als der wahren Liebe Pfandt

Und mein eusserstes Genügen;

Und umb meinen Leib und mich

Schlägt er mit der Rechten sich.


Salomon.


O ihr Töchter Solyme,

Ich beschwer' euch bey den Rehen

Die zu Feld' und auff der Höh'

In der feisten Weide gehen,

Weckt mein Lieb nicht auff mit Macht

Biß sie von sich selbst erwacht.


[259] Die Sulamithinn.


Hör' ich meinen Liebsten nicht?

Seh' ich ihn nicht zu mir dringen?

Schaue doch mein werthes Liecht

Auff den weisen Hügeln springen,

Wie ein Rehbock sich erzeigt

Und die wilde Gemse steigt.


Hat er sich doch schon allhier

Hinter unsre Wand begeben,

Sieht durchs Fensterlied herfür,

Durch das Gitter schaut mein Leben,

Singt auffs lieblichst' als er kan

Und hebt also zu mir an:


Salomon


Komm, o Schöne, wo ich bin,

Auff, Lieb, stille mein Verlangen;

Schnee und Eiß ist überhin,

Sturm und Regen sind vergangen,

Das vorhin bereiffte Land

Wird in Blumen umbgewandt.


Nichts ist traurig, was man sieht,

Freude steckt in allen Dingen,

Wald, Feld, Berg und Wiese blüht,

Die verliebten Vögel singen,

Und die Turteltaube rufft

Ihrem Buhlen auß der Lufft.


Der fast blaue Feigenbaum

Hat viel Knotten schon gewonnen,

Und der Weinstock hält sich kaum,

Krieget Augen von der Sonnen,

Sein Geruch macht sich herfür;

Komm, Lieb, Schöne, komm zu mir.


Meine Taube, die du dich

Setzest in Gebirg und Klippen,

Laß die Schönheit schauen mich,

Laß mich hören deine Lippen;

Nichts ist daß der Stimme gleicht,

Der Gestalt ein jeder weicht.


Leidet nicht die Füchse mehr,

Schlaget ihre Jungen nieder,

Die den Weinberg also sehr

Uns verwüsten hin und wider,

Dann er jetzt kaum wird gehegt,

Und noch wenig Beeren tregt.


Die Sulamithinn.


Der mich mehr noch liebt als sich,

Der nur mich liebt und sonst keine,

Der ist mein' und sein' auch ich,

Seine bin ich und er meine:

Lilien sind ihm eine Lust,

Und Violen seine Kost.


Wann der rothe Tag anbricht,

Wann der Schatten ist vergangen,

Komm alsdann und säume nicht,

Komm herwieder, mein Verlangen,

Wie ein Rehe sich erhebt,

Das auff Bethers Alpen lebt.

Quelle:
Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart [1889], S. 259-260.
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