[1.]
Ejn Jungfraw außerkoren/
Hat Gottes Sohn gebohren/
Der drey vnd dreyssig Jahr/
Bey vns auff Erden war/
Da er gelehrt hat jederman/
Vnd grosse Wunderwerck gethan/
Die niemand wol erzehlen kan.
2.
Als er zum Oelberg gangen
Sein Leyden anzufangen/
Solch Angst sein Hertz erhitzt/
Daß er den Blutschweiß schwitzt.
Vom Blut die Erd ward Purpur roth/
Sein Angesicht bleich wie der Todt/
So groß war seine Angst vnd Noth.
3.
Gefangen von den Scharen/
Die darumb kommen waren/
Geschleifft zum Garten auß/
Zu Annas in daß Hauß. Joan 18.
Vnd eben in derselben Nacht/
Zu Caiphas ward er gebracht/
Der jhm nach Leib vnd Leben tracht.
4.
Ach hie ist nicht zu sagen
Was da sich zugetragen/
Mit jhm die Schar vnd Rott/
Trieb allen Schimpff vnd Spott/
Die Eysen hand vnd Backenstreich/
Sein Haupt vnd Antlitz schlugen weich/
Gelb/ Grün/ vnd Schwartz/ Braun/ Blaw vnd Bleich.
5.
So bald der Tag ankommen/
Für das Gericht genommen/
Pilato ward gesandt
Dem Richter in die handt.[142]
Viel Lügenwercks ward da gesagt/
Sehr fälschlich ward er angeklagt/
Vnd vber alle maß geplagt.
6.
Bald gieng es an ein bluten/
An Geiselen vnd Ruthen:
Sechs Hencker schlugen zu/
Ohn alle Rast vnd Rhu.
Jhn schlugen sie voll Wunden groß/
Man sah jhm Bein vnd Rippen bloß/
Auch Haut vnd Fleisch hieng alles bloß.
7.
Die Hencker hie zu lachen/
Ein Kron von Dörnen machen/
Die Krön jhm auffgesetzt/
Sein Haupt vnd Hirn verletzt.
Die Kron sein Stirn vnd Hirn durchstoch/
Kein Aug/ kein Ohr war ohn ein Loch/
Das Blut durch Mund vnd Naß außbroch.
8.
Kaum könt er sich mehr wegen/
Das Creutz doch auff jhn legen/
Daß er getragen hat/
Hinauß weit für die Stat.
Das Creutz war groß vnd viel zu schwer/
Daß er mit schier erlegen wer/
Must gleichwol fort mit lauffen sehr.
9.
Ach hie muß ich es lassen/
Dann groß ohn alle massen
Gewesen Schmertz vnd Weh/
Am Berg Caluarie.
Dein Schmertz vnnd Weh Herr Jesu Christ/
Da du am Creutz gehangen bist/
Von niemandt außzusprechen ist.
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