Aeromechanik

[89] Aeromechanik. Nachdem gegen das Ende des 17. Jahrhunderts die Lehre von den Naturkräften eine systematischere Form angenommen hatte, schied man als selbständige Zweige die Mechanik der starren, flüssigen und gasförmigen Körper aus. Für diese letztere wurde ursprünglich der Name Aerometrie[89] gewählt [1]; das erste Lehrbuch der Physik der Gase führte diese Bezeichnung anscheinend auch ein [2]. Späterhin wurde dann, je nachdem man die Gase im Ruhe- oder im Bewegungszustande betrachtete, eine Trennung der Disziplin in Aerostatik und Pneumatik durchgeführt, welch letzterer Name zuerst von dem bekannten Kompendiographen Schott gebraucht worden zu sein scheint [3], und wieder erst später trat an die Stelle der Pneumatik die onomatologisch und begrifflich der »Hydrodynamik« Daniel Bernoullis [4] nachgebildete Aerodynamik. Doch m dieser letztere Name deshalb nicht sehr üblich geworden, weil zumal die französischen Autoren die Lehre von den tropfbar- und von den elastisch-flüssigen Körpern einheitlich unter der Bezeichnung Hydrostatik und Hydrodynamik zusammenzufassen lieben; ein charakteristisches Beispiel hierfür gibt Duhamel [5]. Aerostatik und Aerodynamik zusammen bilden dann die Aeromechanik.

Die Anfänge der Aerostatik lassen sich zurückführen auf die Zeit der Alexandriner, indem Ktesibios und Heron durch Erfindung einer Anzahl zum Teil noch jetzt gebrauchter Apparate dartaten, daß sie die Elastizität und das Expansionsvermögen der Luft sehr wohl kannten und zu verwerten verstanden [6]; eine Schrift Herons (um 100 v. Chr.) ist in mehrfacher Bearbeitung auf uns gekommen [7]. Wissenschaftlich begründet konnte die Disziplin aber natürlich dann erst werden, nachdem Torricelli den Druck der Luft erkannt und quantitativ zu messen gelehrt hatte [8]. Die Aufgabe der Aerostatik gipfelte nachmals wesentlich darin, Gesetze auszumitteln, die den Zusammenhang zwischen Druck, Temperatur und Volumen mathematisch fixieren. Zunächst diente diesem Zwecke das unabhängig von Boyle und Mariotte gefundene, gewöhnlich aber den Namen des Letztgenannten tragende Gesetz [9], das jedoch erst mit der durch Gay-Lussac hinzugefügten Erweiterung [10] die tatsächlichen Verhältnisse richtig darstellt (s. Boylesches Gesetz, Gay-Lussacsches Gesetz). In neuester Zeit hat Kuhn eine noch allgemeinere Formel hergeleitet, deren Gültigkeitsbereich wohl auch noch ausgedehnter sein dürfte als derjenige der von Mariotte und Gay-Lussac gegebenen Ausdrücke, die in der ersterwähnten als spezielle Fälle enthalten sind [11]. Als wichtigste Anwendung der Aerostatik ist die aus Pascals Initiative [12] hervorgegangene Höhenmessungsmethode (s. Höhenmessung, barometrische) zu betrachten.

Die Aerodynamik hat unter dem theoretischen Gesichtspunkte die Gleichungen der Bewegung von Gasen in einem unendlich ausgedehnten Zylinder, sowie für die Bewegungen im Innern einer selbst unendlichen Gasmasse aufzustellen und zu diskutieren; hierfür haben Fourier und Riemann die erforderliche Anleitung gegeben [13]. Ueber die Bewegung der Gase, die durch Röhren hindurchströmen, haben d'Alembert [14] und Bossut [15], vor allem aber Navier [16] theoretische, d'Aubuisson [17] und G.G. Schmidt [18] experimentelle Untersuchungen angestellt. Ferner gehört hierher die Ermittlung von Ausdrücken für die Geschwindigkeiten, mit denen Gase unter verschiedenen Modalitäten aus einem Gefäße ausströmen; man findet die Resultate der bezüglichen Entwicklungen sehr übersichtlich beisammen bei Bonn [19]; bei kapillaren Röhren gilt angenähert das Gesetz von Poiseuille [20]. Auch die Lehre von der Viskosität und inneren Reibung der Gase, sowie vom negativen Seitendrucke [21] gehören hierher, und auch die Luftschiffahrt, sowie die durch v. Pettenkofer und Recknagel so weit geförderte Ventilation unterstehen den Gesetzen der Aeromechanik. Ein andres Spezialproblem ist gegeben durch die von Crelle [22] und Zernikow [23] behandelte Frage nach der Kraft, mit der bewegte Luft auf einen ihr sich entgegenstellenden Körper wirkt. Ja, streng genommen, hat man ein gutes Recht, die gesamte Lehre von den Bewegungen in der Atmosphäre unserm Wissenszweige zu subsumieren und mathematisch gehaltene Lehrbücher der dynamischen Meteorologie, wie wir ein ganz treffliches von Sprung [24] besitzen, auch als solche der Aeromechanik in Anspruch zu nehmen.

Vor allem gilt dies für das Problem der allgemeinen Luftzirkulation, das schon durch Dove auf die wissenschaftliche Tagesordnung gestellt, aber erst später mit den Hilfsmitteln der höheren Analysis in Angriff genommen wurde. Ferrel, H. v. Helmholtz, Werner Siemens, William Thomson u.a. haben, wie weit auch im einzelnen ihre Anschauungen auseinandergehen, doch so viel festgestellt, daß in den höheren Schichten unsrer Lufthülle regelmäßige Bewegungsvorgänge sich vollziehen. Uebersichtlich stellte Greim [25] den zurzeit erreichten Stand unsers Wissens auf diesem Gebiete dar.


Literatur: [1] Gehlers physikalisches Wörterbuch, 2. Aufl., Leipzig 1825, Bd. 1, S. 217 ff. – [2] Wolf, C. v., Elementa Aërometriae, Leipzig 1709. – [3] Schott, Kasp., Mechanica Hydraulico-Pneumatica, Würzburg 1658. – [4] Bernoulli, D., Hydrodynamica seu de viribus et motibus fluidorum commentarii, Straßburg 1738. – [5] Duhamel, Lehrbuch der reinen Mechanik, deutsch von W. Wagner, Braunschweig 1853, 2. Teil, S. 214 ff., S. 244 ff. – [6] Cantor, Die römischen Agrimensoren und ihre Stellung in der Geschichte der Feldmeßkunst, Leipzig 1875, S. 17 ff. – [7] Heron, Spiritualia, latein. von Commandino, Urbino 1775, deutsch von Cario, Bamberg 1687. – [8] Heller, Geschichte der Physik von Aristoteles bis auf die neueste Zeit, Stuttgart 1884, Bd. 2, S. 102 ff. – [9] Mariotte, Second essai de physique, de la nature de l'air, Paris 1679. – [10] Gay-Lussac, Annales de chimie et de physique, t. 43, p. 137 ff. – [11] M. Kuhn, Ueber die Beziehung zwischen Druck, Volumen und Temperatur bei Gasen, Wien 1893. – [12] Pascal, Recit de la grande experience de l'equilibre des liqueurs, Paris 1648 (Neudruck von Hellmann, Berlin 1893). – [13] Riemann-Hattendorff, Partielle Differentialgleichungen und deren Anwendung auf physikalische[90] Fragen, Braunschweig 1876, S. 271 ff. – [14] d'Alembert, Traité de l'équilibre et du mouvement des fluides, t. 2, ch. 4, Paris 1744 (Oeuvres, Paris 1821, t. 5). – [15] Bossut-Langsdorf, Lehrbegriff der Hydrodynamik, Frankfurt a.M. 1792, 2. Teil, S. 409 ff. – [16] Navier, Mémoires de l'Acad Royale de l de France, t. 9, p. 355. – [17] d, Annales des Mines, t. 13, p. 483 ff. – [18] Schmidt, G.G., Gilberts Annalen der Physik, Bd. 66, S. 68 ff. – [19] Bohn, Ergebnisse physikalischer Forschung, Leipzig 1878, S. 173 ff. – [20] Poiseuille, Annales de chimie et de physique, Serie 3, t. 21, p. 76 ff. – [21] Rosenberger, Die Geschichte der Physik in Grundzügen, Braunschweig 1890, 3. Teil, S. 640 ff. – [22] Crelle, Theorie des Windstoßes mit Anwendung auf Windflügel, Berlin 1802. – [23] Zernikow, Theorie des Windstoßes nebst Anwendung auf Windflügel und Schiffssegel, Erfurt 1854. – [24] Sprung, Lehrbuch der Meteorologie, Hamburg 1885. – [25] Greim, Ueber die allgemeine Zirkulation der Atmosphäre, Geographische Zeitschrift, Bd. 15, S. 39 ff.

Günther.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 1 Stuttgart, Leipzig 1904., S. 89-91.
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