Tiergesellschaften

[539] Tiergesellschaften, die Vereinigung einer Anzahl von Individuen derselben Tierart zum zeitweisen oder ständigen Zusammenleben findet sich bereits bei den niedersten tierischen Lebewesen, den Protozoen, und kommt bis zu den höchststehenden (Vögel, Säugetiere, Menschen) vor. Sie entstehen, wenn die ungeschlechtlich (durch Teilung) auseinander hervorgehenden Individuen vereinigt bleiben, wie z. B. bei den Tierstöcken oder Kolonien der Einzelligen. Hierher gehören z. B.: die aus zahlreichen, durch eine gemeinsame Hülle zusammengehaltenen Individuen bestehende, kugelförmige Flagellatenkolonie Volvox (s. Tafel »Süßwasserfauna I«, Fig. 6) und die baumartig verzweigten Stöckchen mancher Wimperinfusorien (Vorticella). Auch bei mehrzelligen Tieren kommen Vereinigungen auf diese Weise zustande, wie die Stöcke der Schwämme, Polypen, Korallen, Moostierchen und Manteltiere zeigen (s. Tafel »Süßwasserfauna I«, Fig. 13; II. Fig. 4 u. 9; Tafel »Korallen I u. II«; Tafel »Manteltiere«, Fig. 1, 4 u. 6). Bei manchen dieser Kolonien, zumal bei denen der Cölenteraten, pflegt zwischen den ernährenden Höhlungen eine direkte Verbindung zu bestehen, so daß die von den einzelnen Individuen aufgenommene Nahrung dem ganzen Stock zugute kommt. Auch bei den Kolonien höherstehender Formen ist durch Kommunikation der Leibeshöhlen oder auf anderm Wege eine Verbindung zwischen den Individuen gegeben und dadurch der Nutzen dieses Zusammenlebens, nämlich eine bessere Ernährung, gewährleistet. In der Kolonie finden die Einzeltiere einen bessern Schutz als beim Freileben, und dies kommt vor allen Dingen in Betracht, wenn eine Verbindung zwischen ihren innern Organen nicht besteht, sondern nur ein äußerlicher Zusammenhalt erkennbar ist, wie bei der bis zu Faustgröße heranwachsenden, frei herumschwimmenden Infusorienkolonie Ophrydium versatile, bei der zahlreiche Individuen in einer Gallerthülle stecken, oder bei der ebenfalls frei schwimmenden, durch gallertige Verklebung zustande kommenden Rädertierkolonie (Conochilus volvox). Bei den Individuen einer solchen Tiergesellschaft tritt häufig eine Arbeitsteilung ein, die mit verschiedenartiger Ausgestaltung der einzelnen Individuen verbunden ist. Mit Vorliebe sondern sich die der Fortpflanzung obliegenden von denjenigen Individuen, die mit der Ernährung, Ortsbewegung oder der Verteidigung des Stockes beschäftigt sind. Eine derartige Verschiedenheit der Ausbildung (Polymorphismus) tritt besonders deutlich bei den Röhrenquallen oder Schwimmpolypen (Siphonophoren) hervor. Die gleiche Erscheinung ist aber auch bei den T. wahrzunehmen, deren Individuen frei neben- und miteinander leben, wie in den »Staaten« der Insekten (Bienen, Wespen, Ameisen, Termiten etc.), den Rudeln und Herden mancher Säugetiere und Vögel. Derartige Gesellschaften, vor allem die der Insekten, können gewissermaßen als eine Familie angesehen werden, indem sie von einem Stammelternpaar herstammen, bei der Honigbiene z. B. von der Bienenkönigin und der sie befruchtenden Drohne. Diese repräsentieren die Geschlechtstiere des Stockes, die andern dienen als Arbeiterinnen zur Erhaltung des Stockes oder, wie bei den Ameisen und Termiten, als sogen. Soldaten zu dessen Verteidigung. Die Einzelindividuen finden in solchen, mit Arbeitsteilung verbundenen Gesellschaften offenbar bessere Ernährungsbedingungen und einen größern Schutz. Bei den Gesellschaften, bei denen sich, wie bei den Schwärmen vieler wirbelloser Tiere und Fische, bei den Zügen der Vögel und Lemminge, den Rudeln der Wölfe, den Herden der Huftiere und Affen, viele gleichartige Individuen zusammenrotten, handelt es sich zum Teil ebenfalls um das beim massenhaften Auftreten besser gewährleistete Schutzbedürfnis sowie um die dadurch unter Umständen begünstigte bessere Ernährung. Wenn bei diesen Gesellschaften ein Leittier, gewöhnlich ein älteres, starkes Männchen, an der Spitze steht, kommt es auch bei ihnen wieder zu einer gewissen Arbeitsteilung. Bekanntlich kann eine Vergesellschaftung auch zwischen verschiedenartigen Tieren stattfinden, doch handelt es sich dann um die Erscheinungen der Symbiose und des Parasitismus. Vgl. Girod, Les sociétés chez les animaux (Paris 1890; deutsch von W. Marshall, Leipz. 1900) und Les colonies animales (2. Aufl., Par. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 539.
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