6. Kapitel.

Die Sage von Jesu Flußübergang.

[87] Dieselben Tiere, die bei Christi Geburt und – wie sich zeigen wird – auch bei seinem Einzug in Jerusalem eine hervorragende Rolle spielen, Ochs, Esel und Pferd, begegnen uns in einer Sage, in der der Heiland über ein Wasser getragen werden will. Und wieder ist, wie in jenen, der Willfährigkeit des einen Tieres die Widerspenstigkeit des anderen gegenübergestellt. Es scheint zweifellos, daß diese Sage slawisch ist. Wenigstens lassen sich die einzelnen Varianten leicht in der Weise ordnen, daß sich eine Wanderung von Osten her ergibt. Auch ist die sehr ähnliche Legende von den Tieren bei der Geburt gerade bei den Slawen zu finden (oben S. 13 f. Nr. 1–4). Endlich – und das ist entscheidend – hat sich der zugrunde liegende heidnische Mythus im Gebiete der slawischen Mythologie, nämlich in einer littauischen Sage, erhalten. Danach wandelte [87] Perkunos auf Erden, zur Zeit als die Tiere noch redeten: er traf zuerst auf das Pferd und erkundigte sich des Weges. »Ich habe keine Zeit, dir den Weg zu zeigen, ich muß fressen.« In der Nähe weidete auch ein Rind, das des Wanderers Bitte vernommen hatte. »Komm, Fremdling«, rief es, »ich will dir den Weg nach dem Flusse weisen.« Da sprach der Gott zum Pferde: »Weil du dir Fressens halber nicht Zeit nahmst, mir einen Liebesdienst zu erzeigen, sollst du zur Strafe nimmer satt werden!« Zum Rinde aber: »Du gutmütiges Tier sollst gemächlich deinen Hunger stillen und der Ruhe pflegend wiederkäuen, weil du mir zu dienen bereit warst!« (Grimm, Mythol.4 XXX Über das Pferd als »Perkels« Geschöpf s. Bd. I, S. 155; vgl. 239 ff. 341 ff.)

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 87-88.
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