26.

[93] Es war einmal ein Mann, der hatte drei Söhne und eine Tochter. Er warb (um Bräute) für die Söhne und verheiratete sie; so blieb noch die Tochter übrig. Es kamen Freier für die Tochter; sie aber wollte nicht heiraten. Da fragte sie ihr Vater: »Meine Tochter, warum willst du denn nicht heiraten?« Sie erwiderte: »Ich möchte ins Kloster gehen1.« Er sagte zu ihr: »Mädchen gehen nicht ins Kloster.« »Warum sollten Mädchen nicht ins Kloster gehen?« fragte sie. Er antwortete: »Wenn eine ins Kloster geht, so muß sie fünfhundert Piaster bezahlen2; du solltest mir gehorchen, liebe Tochter, und heiraten; das wäre besser für dich.« Sie sagte: »Nein, Vater!« »Doch,« erwiderte er; »morgen Abend werden Männer kommen, um um dich anzuhalten; dann will ich dich verloben.« Es wurde Abend; man bereitete das Abendessen, und sie speisten. Dann gingen ihre Brüder weg, um den Abend (irgendwo) zu verplaudern; wer von ihren Angehörigen zu Hause blieb, legte sich schlafen. Das Mädchen aber wartete, bis sie fest schliefen; dann begann sie damit, ihre Kleider auszuziehen, und zog die eines ihrer Brüder an; hierauf bereitete sie sich ihr Lager und schlief, bis das Tageslicht anbrach. Nun stand sie auf; ihre Angehörigen ließ sie schlafen, nahm zwei Brote mit und ging auf der Straße weg. So gelangte sie in ein Dorf; da erkundigte sie sich bei jemand: »Lieber Freund3, ist das Erlöserkloster noch weit von hier entfernt?« Er erwiderte: »Drei Tagereisen.« Sie ging weiter auf dem Wege; gegen Sonnenuntergang gelangte sie zu einem anderen Dorfe. Sie war hungrig, daher trat sie in ein Haus; da traf sie eine Frau – (alles dies) das Mädchen, das sich in einen jungen Mann verkleidet hatte –; sie bat die Frau: »Liebe Frau4! schenke mir doch zwei Brote!« »Wohin gehst du, mein Sohn?« fragte jene. »Ich gehe in die und die Dörfer,« erwiderte er5. Sie gab ihm zwei Brote, und er zog weiter seines Weges. Als es Abend wurde, ging er in ein Dorf; dort traf er einen Mann und fragte ihn:[93] »Lieber Freund, ist das Erlöserkloster noch weit von hier entfernt?« Jener antwortete: »Morgen Mittag wirst du es erreichen.« Am anderen Morgen früh brach er auf und zog seines Weges; da traf er zwei Leute an. Er fragte sie: »Wohin geht ihr, Freunde?« Sie antworteten: »Wir haben Briefe in das Erlöserkloster zu tragen.« Da bat er: »So nehmt mich doch mit!« Sie sagten: »Geh nur! Du wirst uns keine Zeit verlieren machen.« So ging er mit ihnen und gelangte ins Kloster. Die Leute gingen dem Abte ihre Briefe abgeben; da fragte er sie: »Woher kommt dieser junge Mann?« Sie antworteten: »Wir haben ihn unterwegs angetroffen.« Da fragte er ihn: »Was wünschest du, junger Mann?« Er erwiderte: »Ich will Mönch werden.« Da sagte jener: »Du bist noch zu jung; du kannst noch nicht Mönch werden; du wirst Sehnsucht nach deinen Angehörigen bekommen; jemand, der Mönch wird, darf weder seine Mutter, noch seinen Vater, noch seine Brüder sehen; wirst du (hier) bleiben können, ohne deine Brüder und deine Mutter und deinen Vater und ohne jemand von deinen Angehörigen zu sehen?« Jener erwiderte: »Ja, ich will (hier) bleiben.« »Kannst du denn lesen?« fragte er. »Ich kann lesen,« erwiderte jener. »So setze dich hin und lies mir vor!« befahl er. Da reichten sie ihm Bücher, und er las ihnen daraus vor. Hierauf gewann ihn der Abt lieb, und er wurde sein Liebling.

Die Mönche aber waren ihm feind. Wenn die Mönche nun auszogen, um für das Kloster die Kollekte zu machen, wurde es dem Abte schwer, jenen mitziehen zu lassen. Die Mönche aber verabredeten unter einander: »Morgen ziehen wir nicht aus zur Kollekte, ohne daß jener junge Mönch mitgeht.« Als der Abt des andern Tages früh aufstand, sagte er: »Brecht auf, meine Lieben! Geht kollektieren!« Sie erwiderten: »Wir gehen nicht.« »Weshalb?« fragte er sie. Sie sagten: »Wenn du nicht den jüngsten Mönch mit uns ausschickst, so gehen wir nicht.« Jener erwiderte: »Meine Lieben! sonst seit ihr doch ohne den jüngsten Mönch weggegangen; weshalb wollt ihr denn heute nicht ohne ihn gehen?« Sie sagten; »Wir haben es uns in den Kopf gesetzt, daß er mit uns gehen muß.« Jener fragte: »Heute wollt ihr nicht ohne ihn gehen?« »Nein, wir gehen nicht,« erwiderten sie. »Und unter allen Umständen wollt ihr nicht ohne ihn gehen?« »Nein,« erwiderten sie. Da befahl er: »Mein Lieber! mache dich auf und geh mit deinen Brüdern kollektieren!« Jener antwortete: »Zu Diensten; wie du es wünschest.« So brach er auf, und sie gingen weg, er und sie.

Sie gelangten in ein Dorf, das nicht sehr weit vom Kloster entfernt lag; dort übernachteten sie in der folgenden Nacht beim Schulzen. Der Schulze aber hatte ein Mädchen, seine Tochter; die richtete ihr Auge auf jenen jungen Mönch und verliebte sich in ihn; während der Nacht begab sie sich zu ihm. Er aber sagte: »O Mädchen! steh davon ab, mir Böses zuzumuten, und geh weg aus meiner Nähe!« Da ging sie weg; auch jene brachen des[94] andern Morgens früh auf und gingen weg. Hierauf beging jenes Mädchen einen schweren Fehltritt. Die Mönche aber gingen in der ganzen Gegend kollektieren, dann kehrten sie ins Kloster zurück. Sie traten vor den Abt; da fragte er den jüngsten Mönch: »Hast du dir unsern Distrikt angesehen (und Freude daran gehabt)?« »Ja,« erwiderte jener. Nach neun Monaten aber lief bei dem Abt ein Brief ein; er las ihn, und es war in dem Briefe geschrieben: »Deine Mönche haben, als sie an dem und dem Dorfe vorbeikamen, beim Schulzen die Nacht zugebracht; der Schulze aber besaß eine silberne Schale, die haben sie gestohlen.« Da fragte er die Mönche; diese antworteten: »Was sollten wir mit der Schale, daß wir stehlen sollten?« Da schrieb er dem Schulzen und berichtete ihm: »Meine Mönche haben weder die Schale noch irgend etwas von deinem Eigentum gestohlen.«6

Die Tochter des Schulzen aber, nachdem sie den Fehltritt begangen hatte, wurde schwanger. Da sagte ihr Vater zu ihr: »Holla, Tochter! Wie hast du so handeln können?« Sie erwiderte: »Der junge Mönch, der bei uns übernachtet bat, hat mir dies angetan.« Sie hatte sich aber mit einem andern vergangen, schuldigte jedoch den Mönch an. Da schickte der Schulz dem Abte einen Boten. »Was will er?« fragte (der Abt). (Der Bote) erwiderte: »Der Schulze des und des Dorfes läßt dich bitten, du möchtest persönlich mit ihm sprechen.« Er sagte: »Er soll hierher kommen, um persönlich mit mir zu sprechen.« Da kam der Schulze zu ihm. »Was wünschest du, Schulze?« fragte jener. Er erwiderte: »Es deine Mönche umherzogen, um zu kollektieren, da begleitete sie ein junger Mönch; nun habe ich eine Tochter, die hat er verführt, so daß sie schwanger wurde und einen Knaben geboren hat.« Da fingen die Mönche an, darüber zu lachen, und sagten zum Abte: »Das ist nun dein Mönch, den du so verzärteltest und in bezug auf den es dir schwer wurde, daß er das Kloster verließ und mit uns auf die Kollekte ging; nun ist er ja diesmal mitgegangen, hat solches Unheil angerichtet und ist zurückgekehrt.« Da fragte der Abt den Schulzen: »Schulze, was verlangst du, daß jetzt geschehen soll?« Jener erwiderte: »Ich verlange, daß jener das Mönchsgewand ausziehe, mitgehe und gezwungen werde, sie zu heiraten; sie hat einen Knaben von ihm; wer soll gezwungen sein, sie zu nehmen, wenn nicht er?« Jener Mönch aber schwieg; er sagte weder: »Es ist wahr,« noch: »Es ist gelogen.« Da sagte der Abt: »Mönch! du mußt in der Tat gehen und sie heiraten.« Jener erwiderte: »Nein.« »Wie willst du's denn machen?« fragte er. Jener sagte: »Laß mir das Kind bringen, ich will es aufziehen; dem Vater aber gib Geld,[95] soviel er nur verlangt.« Da gab er dem Vater Geld und sagte zu ihm: »Geh und schicke das Kind; er will es aufziehen.« Da ging er weg und schickte ihm das Kind ins Kloster. Die Mönche aber begannen, unter einander zu sprechen: »Werden in einem Kloster Kinder zur Welt gebracht?« Nun lag außerhalb des Klosters eine Höhle; da verstießen sie jenen Mönch mit dem Kinde in jene Höhle und ließen sie darin wohnen. Dem Mönche aber reichten sie täglich einen Brotfladen; an einigen Tagen brachten sie es ihm, an andern unterließen sie es. Der Mönch jedoch war ja ein Mädchen; da geschah es, daß aus ihren Brüsten Milch für das kleine Kind floß.

Ein Jahr und vier Monate wohnten sie in jener Höhle. Es gab aber ein Fest, wenn dieses Fest stattfand, kamen die Leute des ganzen Distriktes zur Wallfahrt und zum Gottesdienst dorthin. Da begab sich jener Mönch ins Kloster zum Abte und bat ihn: »Gewähre es mir: morgen findet das Fest statt, ich will kommen und mich unter die Türe der Klosterkirche legen; dann sollen die Leute, die am Gottesdienst teilnehmen wollen, im Vorbeigehen mir auf den Hals treten; vielleicht wird Gott (mir) dann die Sünde verzeihen, die ich begangen habe.« Jener sagte: »Nun ja, mein Sohn! Komm, wie du es wünschest! Wenn du es aushalten und ertragen kannst, daß die Leute dich mit Füßen treten, so komm nur!« Am folgenden Tage früh kam der Mönch und legte sich unter die Kirchtüre. Da kamen die Leute aus dem ganzen Distrikte zum Gottesdienste, und es kamen auch die Leute aus dem Dorfe, in welchem man ihn fälschlich beschuldigt hatte; sie kamen und wollten über ihn hinwegschreiten und weiter gehen; aber er ließ es nicht anders zu, als daß sie ihm auf den Hals traten. So traten alle Leute ihm auf den Hals und gingen zum Gottesdienst. Als sie beinahe fertig waren mit dem Gottesdienst, trat jener vor den Abt und sprach zu ihm: »Ich bitte dich, laß mich an der Türe des Chors Platz nehmen und zwei Worte predigen.« Nun nahm er das Kind auf den Arm und ging in den Chor; an der Türe des Chors blieb er stehen, um zu predigen. Da begannen die Leute zu einander zu sagen: »Da geht er hin und will predigen; warum predigt der Mönch nicht ich selber7? Er hat einen Sohn und will den Leuten predigen.« Ich glaube, das Kind war so alt wie Arna8; es konnte weder sprechen noch gehen. Als jener nun seine Predigt beendigt hatte, sprach er: »O du Kind da! ich beschwöre dich im Namen des Herrn Jesus, daß du gehest und aussagest, wer von den hier Versammelten deine Mutter und wer dein Vater ist.« Da sprang der Knabe vom Arme des Mönches herab, begab sich unter die Gemeinde, die in der Kirche war, und wies (mit der Hand) auf seine Mutter und wies auf seinen wirklichen Vater, indem er sprach: »Dies ist meine Mutter und dies ist mein Vater.«[96] Der Mönch aber sagte: »Wenn ihr es nicht glauben wollt, o ihr, die ihr hier in der Kirche seid: ich bin kein Mann; ich bin ein Mädchen und da sind meine Brüste!« Sie zeigte ihnen ihre Brüste – noch immer stand sie an der Türe des Chors. Da begannen die Leute zu weinen und sich ihr zu Füßen zu werfen, indem sie sie küßten und Reue empfanden, weil sie, als sie in die Kirche hineingegangen waren, ihr auf den Hals getreten waren. Das Kind übergaben sie seiner Mutter und seinem Vater. Das Mädchen jedoch starb, und ihre Seele stieg zum Himmel empor. Da begrub man sie und trug ihren Namen ein als den der heiligen Schirbin. Und wohl ihr, daß sie solches alles ertrug!

1

Für »Mönch werden« und »Nonne werden« hat der Syrer bloß ein Wort; daher der freiere Ausdruck in der Übersetzung.

2

Er sagt nur so, um sie davon abzuhalten. O. Gl.

3

wörtlich: o mein Onkel.

4

wörtlich: o meine Tante.

5

Von hier an ist das Maskulin gebraucht.

6

Jedenfalls ist die Erzählung hier stark verkürzt; der wirkliche Verlauf der Diebstahlsgeschichte, bei der wohl auch auf den jungen Mönch ein Verdacht geworfen war, ist unterdrückt. Dagegen weist schon das obige »nach neun Monaten« auf das hin, was nun folgt.

7

So nach O. Gl.; wörtlich: unter einander.

8

Der kleine 16–17 Monate alte schreiende Säugling der Erzählerin. O. Gl.

Quelle:
Bergsträsser, G[otthelf] (Hg.): Neuaramäische Märchen und andere Texte aus Malula. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1915, S. 93-97.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon