III. Der Streit des Weizens mit dem Golde.1

[303] 1.


Zwei Genossen, voll Strebens,

traten vor, beide vollkommen,

Gold und Weizen, die geehrten,

ein jeder von ihnen wollte seinen Genossen besiegen.


2.


Das Gold hub an und sprach,

mit klarem Verstand versicherte es den Menschen

und sprach zum Weizen,

dass er seinen Kopf neigen und sich vor ihm beugen solle.


3.


»Aus mir«, sagte es, »verfertigt man Geschmeide,

mit mir wirbt man um Bräute,

und ein jeder König, der neu auftritt,

setzt mich als Krone auf sein Haupt.


4.


Von mir sind voll die Schätze,

mich ehren die Königinnen,

durch mich werden die Städte bevölkert,

schon mein Name genügt mir.


5.


Ohne mich geschieht nichts

und kann auch nicht schnell geschehen,

dich hingegen wirft man auf den Düngerhaufen.

Nun thue mir deine Thaten kund.«
[304]

6.


Da antwortete der Weizen und sprach,

vor allen Menschen that er es kund,

mit erhobener Stimme rief er aus:

»Von allen (Menschen) wird mir Gutes zuerkannt (?).«


7.


Herbst um Herbst2 säet man mich,

im Dezember und Januar vergräbt man mich,

man befeuchtet mich und begiesst mich,

günstige Regen sättigen mich.


8.


Ich liege im Grabe begraben;

dann erwache ich im Monat Februar

und trage wie schwangere Frauen;

doch gleiche ich auch einem Manne,

der dasteht und sich vor seinem Herrn beugt.


9.


Im Monat März rufe ich aus,

fordere zur Freude3 und zur Lobpreisung auf,

dann frohlocken die Völker und preisen [Gott],

und mit ihnen freue auch ich mich.


10.


Im Monat April bekleide ich mich

mit prächtigen Gewändern von Grün;

wie eine Braut im Brautgemach sitze ich da

und bewahre meine Würde (?).


11.


Im Mai, dem Monat der leuchtenden Sterne,

bekleide ich mich mit herrlichen Gewändern;

mit Blättern, Rohr, auch Kränzen

und Ähren erfreue ich die Bauern.
[305]

12.


Wolken drängen einander,

sie erfreuen mit ihrem Gedonner die Schnitter,

der Herr der Geschöpfe sendet [Regen] herab,

und ich trinke ihn mit Lust.


13.


Im Monat Juni ziehen aus

die Völker auf die Flur und sammeln ein,

die Schnitter singen und rufen:

»Preis Gott, der dich geschenkt!«


14.


Mit prächtigen Sensen mähen sie mich,

sie sammeln mich vom weichen Boden auf,

nehmen mich auf ihre Arme

und tragen mich auf ihre Tennen.


15.


Im Monat Juli dreschen sie mich,

im August und September tragen sie mich

in ihre Häuser und nehmen mich da auf

und legen mich in ihre Scheunen.


16.


Die Priester tragen mich in ihre Kirchen,

sie tragen mich unter Gesängen in Prozession,

und die Diakone bedienen sie

im geistigen Tempel.


17.


Ich gleiche der Perle

und erfreue das Herz der Bauern;

weh dem Orte, an dem ich nicht bin,

weh der Stadt, in der ich mich nicht zeige!
[306]

18.


An jedem Orte, in dem ich bin,

ziehe ich auch dich mir nach;

ich wandere von Ort zu Ort

und bringe dich mit mir, wie ein Hund hinter seinem Herrn hergezogen wird.


19.


Unglücklicher, beuge dein Haupt,

krieche in die Erde, verbirg deinen Leib;

deine Worte erwiesen sich als irrig

vor allen Menschen, die dich anhörten.


20.


»Ich befinde mich auf dem Altar und im Tempel,

von mir reicht man das Abendmahl,

mich geniesst jedermann

und lebt durch mich an Körper und Geist.«


Zu Ende ist das Stück von dem Weizen und dem Golde.

1

Im Texte: »Ein anderes vom Weizen und Golde«.

2

Oder: »Im Oktober und November«

3

Nach B.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 303-307.
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