Lemming (Myodes Lemmus)

[393] Das Urbild der Sippe, der Lemming (Myodes Lemmus, Mus Lemmus und norwagicus, Lemmus norwegicus), erreicht eine Gesammtlänge von 15 Centim., wovon höchstens 2 Centim. auf das Stutzschwänzchen kommen. Der reiche und lange Pelz ist sehr ansprechend gezeichnet. Von der braungelben, im Nacken gewässerten Grundfärbung heben sich dunkle Flecken ab; von den Augen laufen zwei gelbe Streifen nach dem Hinterkopfe. Der Schwanz und die Pfoten sind gelb, die Untertheile einfach gelb, fast sandfarbig.

Der Lemming ist unbedingt das räthselhafteste Thier ganz Skandinaviens. Noch heute glauben die Bauern der Gebirgsgegenden, daß er von dem Himmel herabgeregnet werde und deshalb in so ungeheurer Menge auftrete, später aber wegen seiner Freßgier sich den Magen verderbe und zu Grunde gehen müsse. Olaus Magnus erzählt, daß er im Jahre 1518 in einem Walde sehr viele Hermeline gesehen und den ganzen Wald mit ihrem Gestanke erfüllt gefunden habe. Hieran wären kleine vierfüßige Thiere mit Namen Lemar Schuld gewesen, welche zuweilen bei plötzlichem Gewitter und Regen vom Himmel fielen, man wisse nicht, ob aus entfernten Stellen hergetrieben oder in den Wolken erzeugt. »Diese Thiere, welche wie die Heuschrecken mit ungeheueren Schwärmen auftreten, zerstören alles Grüne, und was sie einmal angebissen haben, stirbt ab wie vergiftet. Sie leben, solange sie nicht frischgewachsenes Gras zu fressen bekommen. Wenn sie abziehen wollen, sammeln sie sich wie die Schwalben; manchmal aber sterben sie haufenweise und verpesten die Luft, wovon die Menschen Schwindel oder Gelbsucht bekommen, oder werden von den Hermelinen aufgefressen, welche letztere sich förmlich mit ihnen mästen.«

[393] Andere Berichterstatter schreiben die Erzählung des Bischofs einfach nach, Olaus Wornius aber gibt im Jahre 1633 ein ganzes Buch heraus, in welchem er sich zu erklären bemüht, daß Thiere in den Wolken entstehen und herunterfallen können, fügt auch hinzu, daß man vergeblich versucht habe, die Lemminge durch Beschwörungen zu vertreiben. Erst Linné schilderte in den schwedischen Abhandlungen vom Jahre 1740 den Lemming der Natur gemäß und so ausführlich, daß man seiner Beschreibung nicht viel hinzufügen kann.


Lemming (Myodes Lemmus). 1/2 natürl. Größe.
Lemming (Myodes Lemmus). 1/2 natürl. Größe.

Ich selbst habe Lemminge im Jahre 1860 namentlich auf dem Dovrefjeld zu meiner Freude in großer Menge angetroffen und mich durch eigene Anschauung über sie unterrichten können. Wie ich in Norwegen erfuhr, finden sie sich auf allen höheren Gebirgen des Landes und auch auf den benachbarten Inseln, falls diese bergig sind. Weiter oben im Norden gehen sie bis in die Tundra herab. In den ungeheueren Morästen zwischen dem Altenfjord und dem Tanaflusse fand ich ihre Losung auf allen trockenen Stellen in unglaublicher Menge, sah aber nicht einen einzigen Lemming mehr. Auf dem Dovrefjeld waren sie im Mai überall sehr gemein, am häufigsten im höchsten Gürtel zwischen 1000 bis 2000 Meter über dem Meere, oder von der Grenze der Fichtenwälder an bis zur Grenze des ewigen Schnees hinauf. Einige fand ich auch in Gulbrandsdalen, kaum 100 Meter über dem Meere, und zwar in wasserreichen Gegenden in der Nähe des Laugen. Auf dem Dovrefjeld wohnte einer neben dem anderen, und man sah und hörte oft ihrer acht bis zehn zu gleicher Zeit.

Die Thiere sind ganz allerliebst. Sie sehen aus wie kleine Murmelthiere oder wie Hamster und ähneln namentlich den letzteren vielfach in ihrem Wesen. Ihre Aufenthaltsorte sind die verhältnismäßig trockenen Stellen des Morastes, welcher einen so großen Theil von Norwegen bedeckt. Sie bewohnen hier kleine Höhlungen unter Steinen oder im Moose; doch trifft man sie auch oft umherschweifend zwischen den kleinen Hügeln an, welche sich aus dem Sumpfe erheben. Selten bemerkt man ausgetretene Wege, welche von einer Höhle zu der anderen führen; größere Gänge[394] schürfen sie sich nur im Schnee. Sie sind bei Tage und bei Nacht munter und in Bewegung. Ihr Gang ist trippelnd, aber rasch, wenn auch der Mensch sie leicht einzuholen vermag. Auf der Flucht zeigen sie sich überaus geschickt, indem sie, selbst in dem ärgsten Sumpfe, jede trockene Stelle herauszusuchen und als Brücke zu benutzen wissen. Das Wasser meiden sie mit einer gewissen Scheu, und wenn man sie in ein größeres Wasserbecken oder in ein Flüßchen wirft, quieken und knurren sie sehr ärgerlich, suchen auch so schnell als möglich das trockene Land wieder zu gewinnen. Gewöhnlich verrathen sie sich selbst. Sie sitzen oft ruhig und wohlversteckt in ihren Löchern und würden sicherlich nicht von den Vorübergehenden bemerkt werden; aber die Erscheinung eines Menschen erregt sie viel zu sehr, als daß sie schweigen könnten. Mit lautem Grunzen und Quieken nach Meerschweinchenart begrüßen sie den Eindringling in ihr Gehege, gleichsam, als wollten sie ihm das Betreten ihres Gebietes verwehren. Nur während sie umherlaufen, nehmen sie, wenn man auf sie zugeht, die Flucht, eilen nach irgend einem der unzähligen Löcher und setzen sich dort fest. Dann gehen sie nicht mehr zurück, sondern lassen es darauf ankommen, todtgeschlagen oder weggenommen zu werden. Mir machten die muthigen Gesellen unglaublichen Spaß; ich konnte nie unterlassen, sie zum Kampfe herauszufordern. Sobald man in nächste Nähe ihrer Höhle gelangt, springen sie aus derselben hervor, quieken, grunzen, richten sich auf, beugen den Kopf zurück, so daß er fast auf dem Rücken zu liegen kommt, und schauen nun mit den kleinen Augen so grimmig auf den Gegner, daß man wirklich unschlüssig wird, ob man sie aufnehmen soll oder nicht. Wenn sie einmal gestellt sind, denken sie gar nicht daran, wieder zurückzuweichen. Hält man ihnen den Stiefel vor, so beißen sie in denselben, ebenso in den Stock oder in die Gewehrläufe, wenn sie auch merken, daß sie hier nichts ausrichten können. Manche bissen sich so fest in meine Beinkleider ein, daß ich sie kaum wieder abschütteln konnte. Bei solchen Kämpfen gerathen sie in große Wuth und ähneln dann ganz den bösartigen Hamstern. Wenn man ihnen recht rasch auf den Leib kommt, laufen sie rückwärts mit aufgerichtetem Kopfe, so lange der Weg glatt ist, und quieken und grunzen dabei nach Leibeskräften; stoßen sie aber auf ein Hindernis, so halten sie wieder tapfer und muthig Stand und lassen sich lieber fangen, als daß sie durch einen kleinen Umweg sich freizumachen suchten. Zuweilen springen sie mit kleinen Sätzen auf ihren Gegner los, scheinen sich überhaupt vor keinem Thiere zu fürchten, weil sie sogar tolldreist jedem Geschöpfe entgegentreten. In den Straßen werden viele überfahren, weil sie sich trotzig in den Weg stellen und nicht weichen wollen. Die Hunde auf den Höfen beißen eine Menge todt, und die Katzen verzehren wahrscheinlich so viele, daß sie immer satt sind; wenigstens könnte ich mir sonst nicht erklären, daß die Katzen der Postwechselstelle Fogstuen auf dem Dovre ganz ruhig neben den Lemmingen vorübergehen, ohne sich um sie zu bekümmern. Im Winter schürfen sie sich, wie bemerkt, lange Gänge in den Schnee, und in diesen hinein bauen sie sich auch, wie ich bei der Schneeschmelze bemerkte, große dickwandige Nester aus zerbissenem Grase. Die Nester stehen etwa 20 bis 30 Centim. über dem Boden, und von ihnen aus führen lange Gänge nach mehreren Seiten hin durch den Schnee, von denen die meisten bald bis auf die Mosdecke sich herabsenken und dann, wie die Gänge unserer Wühlmäuse, halb zwischen dem Mose und halb im Schnee weiter geführt werden. Aber die Lemminge laufen auch auf dem Schnee umher oder setzen wenigstens über die großen Schneefelder in der Höhe des Gebirges.

Ihre Jungen werden nach Versicherung meines alten Jägers in den Nestern geworfen, welche sie bewohnen. Mir selbst glückte es nicht, ein Nest mit Jungen aufzufinden, und fast wollte es mir scheinen, als gäbe es zur Zeit meines Aufenthaltes auf dem Dovrefjeld noch gar keine solche. Linné sagt, daß die Thiere meistens fünf bis sechs Junge hätten, und Scheffer fügt hinzu, daß sie mehrere Male im Jahre werfen. Weiteres ist mir über ihre Fortpflanzung nicht bekannt.

Die Hauptnahrung der Lemminge besteht aus den wenigen Alpenpflanzen, welche in ihrer armen Heimat gedeihen, namentlich aus Gräsern, Renthierflechten, den Kätzchen der Zwergbirke und wahrscheinlich auch aus allerlei Wurzeln. Lemminge finden sich ebenso hoch, als die Flechtendecke reicht, und nirgends da, wo sie fehlt: dies deutet darauf hin, daß diese Pflanzen wohl [395] den Haupttheil ihrer Mahlzeiten bilden dürften. Soviel ich erfuhr, tragen sie sich nicht für den Winter ein, sondern leben auch dann von dem, was sie unter der dicken Schneedecke finden, zumal von den Knospen der bedeckten Gesträuche. Großen Schaden bringen sie nicht; denn da, wo sie wohnen, gibt es keine Felder, und in die Häuser kommen sie auch nicht herein. Wenn sie sich wirklich einmal in den Höfen sehen lassen, ist das wohl nur Zufall: sie haben sich bei einer ihrer Lustwandlungen verirrt. Doch sagte mir ein Bewohner der Lofoten, daß die Kartoffelfelder in manchen Jahren von den Lemmingen gebrandschatzt würden. Die Thiere wühlen sich lange Gänge in den Feldern und bauen sich ihre Höhlen unmittelbar zwischen die Wurzelknollen, von denen sie dann in aller Gemächlichkeit leben. Ihre Heimat ist übrigens, so arm sie auch scheinen mag, reich genug für ihre Ansprüche und bietet ihnen alles, was sie bedürfen. Nur in manchen Jahren scheint dies nicht der Fall zu sein; dann sehen sich die Lemminge genöthigt, Wanderungen anzustellen.

Ich muß bei Erwähnung dieser allbekannten Thatsache hervorheben, daß die Leute auf dem Dovrefjeld nicht das geringste von den Wanderungen wußten, und daß die Bewohner Lapplands mir ebensowenig darüber sagen konnten. Auch Finnländer, welche ich fragte, wußten nichts, und wäre nicht Linné der Gewährsmann für die bezüglichen Angaben: ich würde sie kaum der Erwähnung werth halten. Aus dem Linné'schen Berichte scheint übrigens hervorzugehen, daß der große Naturforscher die Lemminge selbst auch nicht auf der Wanderschaft gesehen, sondern nur das Gehörte wieder erzählt hat. Neuere Reisende haben der wandernden Lemminge Erwähnung gethan und dabei gesagt, daß der Zug der Thiere einem wogenden Meere gliche; aber ihre Angaben sind keineswegs so ausführlich und bestimmt, daß wir über die Wanderung selbst ein klares Bild bekommen sollten. Martins, einer der letzten Berichterstatter, welcher über die Wanderungen spricht, erzählt, daß er in einem Fichtenwalde am Ufer des Muonio Lemminge zahlreicher auffand als irgendwo zuvor, und daß es ihm unmöglich gewesen wäre, alle diejenigen zu zählen, welche er in einem Augenblicke gesehen habe. Je weiter er und sein Begleiter im Walde vordrangen, desto mehr vergrößerte sich fortwährend die Anzahl der Thiere, und als man zu einer lichten Stelle gekommen war, erkannte man, daß sie alle in derselben Richtung liefen, indem sie die des Flüßchens einhielten. Oft begegneten sie den Beobachtern, indem sie auf beiden Ufern des Muonio ans Land stiegen. Eine Ursache der Wanderung vermochte Martins ebensowenig zu erkennen wie Linné.

»Das allermerkwürdigste bei diesen Thieren«, sagt der letztgenannte Forscher, »ist ihre Wanderung; denn zu gewissen Zeiten, gewöhnlich binnen zehn und zwanzig Jahren, ziehen sie in solcher Menge fort, daß man darüber erstaunen muß, bei tausenden hintereinander. Sie graben zuletzt förmliche Pfade in den Boden ein, ein paar Finger tief und einen halben breit. Diese Pfade liegen mehrere Schritte von einander entfernt und gehen sämmtlich schnurgerade fort. Unterwegs fressen die Lemminge das Gras und die Wurzeln ab, welche hervorragen; wie man sagt, werfen sie oft unterwegs und tragen ein Junges im Maule und das andere auf dem Rücken fort. Auf unserer Seite (auf der schwedischen also) ziehen sie vom Gebirge herunter nach dem botnischen Meerbusen, gelangen aber selten so weit, sondern werden zerstreut und gehen unterwegs zu Grunde. Kommt ihnen ein Mensch in den Strich, so weichen sie nicht, sondern suchen ihm zwischen den Beinen durchzukommen oder setzen sich auf die Hinterfüße und beißen in den Stock, wenn er ihnen denselben vorhält. Um einen Heuschober gehen sie nicht herum, sondern graben und fressen sich durch; um einen großen Stein laufen sie im Kreise und gehen dann wieder in gerader Linie fort. Sie schwimmen über die größten Teiche, und wenn sie an einen Nachen kommen, springen sie hinein und werfen sich auf der andern Seite wieder in das Wasser. Vor einem brausenden Strome scheuen sie sich nicht, sondern stürzen sich hinein und wenn auch alle dabei ihr Leben zusetzen sollten.« Scheffer erwähnt in seiner Beschreibung von Lappland die alte Erzählung des Bischofs Pontoppidan, nach welcher die Lemminge, sowohl westlich als östlich gegen das Nordmeer oder den botnischen Meerbusen hin, in solchen Haufen vom Gebirge herunterrücken, »daß die Fischer oft [396] von diesen Thieren umringt und ihre Boote bis zum Untersinken mit ihnen gefüllt werden. Das Meer schwimmt von ersoffenen, und lange Strecken der Küsten sind von ihnen bedeckt.«

Meiner Ansicht nach muß die Ursache solcher Wanderungen ebenso wie bei anderen Wühlmäusen in zweitweilig sich fühlbar machendem Mangel an Nahrung beruhen. Obwohl diese Lemminge wie oben bemerkt, zuweilen in die Niederung herabkommen, müssen sie doch als Gebirgsthiere bezeichnet werden; denn auch die Tundra im hohen Norden von Skandinavien trägt durchaus das Gepräge der breiten, abgeflachten Rücken südlicherer Gebirge. Wenn nun auf einen milden Winter ein gutes Frühjahr und ein trockener Sommer folgen, sind damit alle Bedingungen zu einer Vermehrung gegeben, welche, wie bei anderen Wühlmäusen auch, als eine grenzenlose bezeichnet werden darf. Die Trockenheit bewirkt aber gleichzeitig ebenso ein Verdorren oder doch Verkümmern der bevorzugten Nahrungspflanzen, das ausgedehnte Weideland reicht für die Menge der wie alle Nager freßgierigen Geschöpfe nicht mehr aus, und sie sehen sich nunmehr gezwungen, anderswo Nahrung zu suchen. Unter solchen Umständen rotten sich bekanntlich nicht allein Nagethiere, sondern auch andere Pflanzenfresser, beispielsweise Antilopen, in Schaaren zusammen, wandern, nehmen unterwegs ihre Artgenossen mit sich und ziehen schließlich gleichsam sinnlos ihres Weges fort, da sie weder eine bestimmte Richtung einhalten, noch auch solchen Gegenden sich zuwenden, wo es wirklich etwas für sie zu fressen gibt. Erst nachdem hunderttausende durch Mangel, Krankheiten, Reisemühen und Reisegefahren ihren Untergang gefunden haben, versuchen die überlebenden wieder die Höhen zu gewinnen, welche ihr eigentliches Wohngebiet bilden, und dabei kann es allerdings vorkommen, daß sie, wie Hoegstroem beobachtete, wiederum in gerader Linie fortziehen. Somit erscheinen mir die Wanderungen der Lemminge durchaus nicht wunderbarer oder minder erklärlich als die anderer Wandersäugethiere, insbesondere anderer Wühlmäuse.

Nach allen Nachrichten, welche ich erhielt, ist es sicher, daß die Lemminge zuweilen versuchen, von einer Insel zur andern zu schwimmen; doch hat man auch diese Wanderungen sehr übertrieben. Oft vergehen viele Jahre, ehe sich einmal Lemminge in großen Haufen zeigen: so waren sie auf dem Dovrefjeld seit funfzehn Jahren nicht so häufig gewesen als im Sommer des Jahres 1860. Dieses plötzliche Erscheinen gibt dem Aberglauben und der Fabelei vielen Anlaß. Man kann sich nicht erklären, daß auf einer einsamen Insel mit einem Male tausende von Thieren, welche früher nicht gesehen wurden, erscheinen und sich Jedermanns Blicken aufdrängen, vergißt aber dabei die einzelnen wenigen, welche sicherlich jahraus, jahrein ihr Wesen treiben und unter günstigen Umständen sich, dank ihrer außerordentlichen Fruchtbarkeit, in das Unglaubliche vermehren können.

Ein Glück ist es immerhin, daß die Lemminge so viele Feinde haben; denn sonst würden sie bei ihrer ungeheuren Häufigkeit das ganze Land überschwemmen und alles Genießbare auffressen. Jedenfalls ist das Klima selbst der beste Vertilger der Thiere. Ein nasser Sommer, ein kalter, frühzeitiger, schneeloser Herbst tödtet sie millionenweise, und dann bedarf es, wie erklärlich, längerer Jahre, bis die Vermehrung ein solches pestartiges Hinsterben wieder einigermaßen ausgleicht. Außerdem verfolgt die Lemminge eine Unzahl von lebenden Feinden. Man darf wohl sagen, daß sich alle Raubthiere ganz Skandinaviens von ihnen mästen. Wölfe und Füchse folgen ihnen meilenweit und fressen, wenn es Lemminge gibt, nichts anderes; der Vielfraß stellt, wie ich selbst beobachtete, unseren Thieren eifrig nach; Marder, Iltisse und Hermeline jagen zur Lemmingszeit nur sie, die Hunde der Lappen sehen in einem Lemmingsjahre Festtage, wie solche ihnen, den ewig hungrigen, nur selten wieder kommen; die Eulen folgen den Zügen; die Schneeeule findet sich fast ausschließlich an Orten, wo es Lemminge gibt; die Bussarde, namentlich der Rauchfußbussard, sind ohne Unterlaß bemüht, die armen Schelme zu vertilgen; Raben füttern mit ihnen ihre Jungen groß, und Krähen und Elstern suchen die bissigen Geschöpfe, so gut es gehen will, auch zu vernichten; selbst die Renthiere sollen, wie vielfach behauptet wird, zuweilen Lemminge fressen oder sie wenigstens, wahrscheinlich erzürnt durch die Kampflust der kleinen Kerle, mit den Vorderhufen todtschlagen.

[397] Höchst spaßhaft sieht es aus, wenn eine Krähe sich an ein Lemmingsmännchen wagt, welches sich nicht gutwillig seiner Feindin überliefern will. Ich hatte das Glück, einen solchen Zweikampf mit anzusehen. Eine Nebelkrähe, welche lange ernsthaft auf einem Felsblocke gesessen, stieß plötzlich auf das Moos herab und versuchte dort etwas aufzunehmen; doch war die Sache nicht so leicht, denn dieses Etwas, ein Lemming, wehrte sich nach besten Kräften, fauchte, knurrte, grunzte, quiekte, warf sich in Kampfstellung, machte Sätze gegen den Vogel und bedrohte diesen so ernsthaft, daß er mehrmals zurücksprang, gleichsam als ob er sich fürchte. Aber der muthige Rabe gab seine Jagd nicht auf, sondern ging immer und immer wieder auf den Lemming los, bis dieser schließlich ermattet es versah, und nun einen wohlgezielten Schnabelhieb empfing, welcher ihm das junge Leben raubte.

Der Mensch wird nur, wenn er selbst in größter Noth sich befindet, zum Feinde der Lemminge. In allen hochgelegenen Gegenden Skandinaviens läßt er die Thiere schalten und walten, wie sie wollen. Er weiß sie auch nicht zu benutzen; das Fell ist nicht viel werth, und vor dem Fleische hegt der Norman, wie leicht begreiflich, ungefähr denselben Abscheu, welchen wir vor dem Rattenfleische haben. Die Lappen aber, gegen deren Leben das mancher Hunde noch beneidenswerth erscheinen muß, werden oft durch den Hunger getrieben, Lemminge zu verfolgen. Wenn ihnen alles Wildpret mangelt und die von ihnen so sicher gehandhabte Büchse nichts mehr bringen will, müssen sie zum Hirtenstocke greifen und Lemminge erschlagen und braten, um ihr Leben zu fristen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 393-398.
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