Zaungrasmücke (Sylvia garrula)

[188] Die allbekannte Zaun- oder Klappergrasmücke, das Müllerchen, Müllerlein, der Liedler und Spötter (Sylvia garrula, Motacilla sylvia, curruca und garrula, Curruca garrula, superciliaris und septentrionalis) ist der Gartengrasmücke nicht unähnlich gefärbt, aber bedeutend kleiner: ihre Länge beträgt nur vierzehn, die Breite höchstens einundzwanzig Centimeter; der Fittig mißt fünfundsechzig, der Schwanz achtundfunfzig Millimeter. Das Gefieder ist auf dem Oberkopfe aschgrau, auf dem Rücken bräunlichgrau, auf dem Zügel grauschwärzlich, auf der Unterseite weiß, an den Brustseiten gelbröthlich überflogen; die olivenbraunen Flügel- und Schwanzfedern sind außen schmal fahlbraun, erstere auch innen und zwar weißlich gesäumt; die äußerste Schwanzfeder jederseits ist außen, ihre Endhälfte auch innen weiß. Das Auge ist braun, der Schnabel dunkel-, der Fuß blaugrau.

Das Verbreitungsgebiet des Müllerchens erstreckt sich über das ganze gemäßigte Europa und Asien, nach Norden hin bis Lappland, nach Osten hin bis China, nach Süden hin bis Griechenland, das Wandergebiet bis Mittelafrika und Indien. Die Zaungrasmücke trifft bei uns erst im Anfange des Mai ein und verläßt uns schon im September wieder. Während ihres kurzen Sommerlebens in der Heimat siedelt sie sich vorzugsweise in Gärten, Gebüschen und Hecken an, neben den Ortschaften wie zwischen den Wohnungen derselben, selbst sogar inmitten größerer Städte. Doch fehlt sie auch dem Walde nicht gänzlich, bewohnt mindestens dessen Ränder und Blößen.

»Sie ist«, wie Naumann schildert, »ein außerordentlich munterer und anmuthiger Vogel, welcher fast niemals lange an einer Stelle verweilt, sondern immer in Bewegung ist, sich gern mit anderen Vögeln neckt und mit seinesgleichen herumjagt, dabei die Gegenwart des Menschen nicht achtet und ungescheut vor ihm sein Wesen treibt. Nur bei rauher oder nasser Witterung sträubt sie zuweilen ihr Gefieder; sonst sieht sie immer glatt und schlank aus, schlüpft und hüpft behend von Zweig zu Zweig und entschwindet so schnell dem sie verfolgenden Auge des Beobachters. So leicht und schnell sie durchs Gebüsch hüpft, so schwerfällig geschieht dies auf dem Erdboden, und sie kommt deshalb auch nur selten zu ihm herab.« Ihr Flug ist leicht und schnell, wenn es gilt, größere Strecken zu durchmessen, sonst jedoch flatternd und unsicher. Die Lockstimme ist ein schnalzender oder schmatzender, der Angstruf ein quakender Ton. Der Gesang, welchen das Männchen sehr fleißig hören läßt, »besteht aus einem langen Piano aus allerlei abwechselnd zwitschernden und leise pfeifenden, mitunter schirkenden Tönen, denen als Schluß ein kürzeres Forte angehängt wird«: ein klingendes oder klapperndes Trillern, welches das Lied vor dem aller anderen Grasmücken kennzeichnet.

Die Nahrung ist im wesentlichen dieselbe, welche die Verwandten genießen.

Das Nest steht in dichtem Gebüsche, niedrig über dem Boden, im Walde vorzugsweise in Schwarz- und Weißdorngebüschen, auf Feldern in Dornhecken, im Garten hauptsächlich in Stachelbeerbüschen, ist überaus leicht gebaut, einfach auf die Zweige gestellt, ohne mit ihnen verbunden zu sein, und ähnelt im übrigen den Nestern der Verwandten. Das Gelege besteht aus vier bis sechs, sechzehn Millimeter langen, zwölf Millimeter dicken, zartschaligen Eiern, welche [188] besonders am dickeren Ende auf reinweißem oder bläulichgrünem Grunde mit asch- oder violettgrauen, gelbbraunen Flecken und Punkten bestreut sind. Beide Eltern brüten wechselsweise, zeitigen die Eier innerhalb dreizehn Tagen, lieben ihre Brut mit derselben Zärtlichkeit wie andere Grasmücken, brauchen auch dieselben Künste der Verstellung, wenn ihnen Gefahr droht, und verfolgen noch außerdem den sich nähernden Feind mit ängstlichem Geschrei. Im allgemeinen sind die Zaungrasmücken während ihrer Fortpflanzungszeit äußerst mißtrauisch, lassen ein bereits angefangenes Nest oft liegen, wenn sie erfahren haben, daß es von einem Menschen auch nur gesehen, und verlassen das Gelege, sobald sie bemerken, daß dasselbe berührt wurde; diejenigen aber, welche von dem Wohlwollen ihrer Gastfreunde sich überzeugt haben, verlieren nach und nach ihr Mißtrauen und gestatten, daß man sie, wenn man vorsichtig dem Neste naht, während ihres Brutgeschäftes beobachtet. Die Jungen lassen sie nie im Stiche; auch die ihnen untergeschobenen jungen Kukuke, bei denen sie sehr häufig Pflegeelternstelle vertreten müssen, ziehen sie mit Aufopferung groß.

Wie die meisten Grasmücken läßt sich das Müllerchen leicht berücken, ohne sonderliche Mühe an ein Ersatzfutter gewöhnen und dann lange Zeit im Käfige halten. Bei guter Behandlung wird es sehr zahm und erwirbt sich dadurch ebenfalls die Gunst des Liebhabers.


Zaun- und Dorngrasmücke (Sylvia garrula und cinerea). 1/2 natürl. Größe.
Zaun- und Dorngrasmücke (Sylvia garrula und cinerea). 1/2 natürl. Größe.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 188-189.
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