§ 39. Der kategorische Imperativ.

  • [462] Literatur: H. COHEN, Kants Begründung der Ethik. Berlin 1877.
    A. HEGLER, Die Psychologie in Kants Ethik. Freiburg i. Br. 1891.
    W. FÖRSTER, Der Entwicklungsgang der kantischen Ethik. Berlin 1894.
    E. ARNOLDT, Kants Idee vom höchsten Gut. Königsberg 187 L
    A. MESSER, Kants Ethik. Leipzig 1904.
    B. PÜNJER, Die Religionsphilosophie Kants. Jena 1874.
    A. SCHWEITZER, Kants Religionsphilosophie Freiburg i. B. 1899.
    E. TROELTSCH, Das Historische in Kants Religionsphilosophie (Kantstudien IX, 12-154).
    FR. MEDICUS, Kants Philosophie der Geschichte (Kantstudien VII, 1902).

Die synthetische Funktion in der theoretischen Vernunft ist die Verknüpfung von Vorstellungen untereinander zu Anschauungen, Urteilen und Ideen: die praktische Synthesis ist die Beziehung des Wollens auf einen vorgestellten Inhalt, womit dieser zum Zweck wird. Diese Beziehungsform hat Kant sorgfältig aus den Stammbegriffen des erkennenden Verstandes ausgeschlossen: sie ist dafür die Grundkategorie des praktischen Vernunftgebrauchs. Sie gibt keine Gegenstände der Erkenntnis, aber Gegenstände des Wollens.

1. Für die Vernunftkritik erhebt sich daraus das Problem, ob es eine praktische Synthesis a priori gibt, d.h. ob es notwendige und allgemeingültige Gegenstände des Wollens gibt: oder ob etwas anzutreffen ist, was die Vernunft ohne alle Rücksicht auf empirische Beweggründe a priori verlangt. Diesen allgemeinen und notwendigen Gegenstand der praktischen Vernunft nennen wir das Sittengesetz.

Denn es ist von vornherein für Kant klar, daß die zwecksetzende Tätigkeit der reinen Vernunft, wenn es eine solche gibt, den empirischen Triebfedern des Wollens und Handelns gegenüber als ein Gebot, in der Form des Imperativs auftreten muß. Der auf die einzelnen Gegenstände und Verhältnisse der Erfahrung gerichtete Wille ist durch diese bestimmt und von ihnen abhängig: der reine Vernunftwille dagegen kann nur durch sich selbst bestimmt sein. Er ist daher notwendig auf etwas anderes gerichtet als die natürlichen Triebe, und dies andere, was das Sittengesetz den Neigungen gegenüber verlangt, heißt Pflicht.

Daher betreffen die Prädikate der sittlichen Beurteilung nur diese Art der Bestimmtheit des Willens: sie beziehen sich auf die Gesinnung, nicht auf die Handlung oder gar deren äußere Folgen. Nichts in der Welt, sagt Kant932, kann ohne Einschränkung gut genannt werden, als allein der gute Wille: und dieser bleibt gut, auch wenn seine Ausführung durch äußere Ursachen völlig gehemmt worden ist. Sittlichkeit als Eigenschaft des Menschen ist pflichtmäßige Gesinnung.[462]

2. Um so nötiger aber wird die Untersuchung, ob es ein solches apriorisches Pflichtgebot gibt und worin es besteht, ein Gesetz, dessen Befolgung die Vernunft ganz unabhängig von allen empirischen Zwecken verlangt. Zur Lösung dieser Frage geht Kant von den teleologischen Verkettungen des wirklichen Willenlebens aus. Die Erfahrung der natürlichen Kausalzusammenhänge bringt es mit sich, daß wir nach dem synthetischen Verhältnis von Zweck und Mittel das eine um des anderen willen zu wollen genötigt sind. Aus der praktischen Ueberlegung derartiger Beziehungen erwachsen (technische) Regeln der Geschicklichkeit und (»praktische«) Ratschläge der Klugheit. Sie alle besagen: »wenn du das und das willst, so mußt du so und so verfahren«. Sie sind eben deshalb hypothetische Imperative. Sie setzen ein Wollen als bereits tatsächlich vorhanden voraus und verlangen auf Grund dessen dasjenige weitere Wollen, welches zur Befriedigung des ersten erforderlich ist.

Das Sittengesetz aber kann von keinem schon empirisch bestehenden Wollen abhängig sein, und das sittliche Handeln darf nicht als Mittel in den Dienst anderer Zwecke treten. Die Anforderung des moralischen Gebots muß lediglich um seiner selbst willen aufgestellt sein und erfüllt werden. Es appelliert nicht an das, was der Mensch sonst schon wünscht, sondern es verlangt ein Wollen, das seinen Wert nur in sich selber hat, und ein wahrhaft sittliches Handeln ist nur dasjenige, worin ein solches Gebot ohne Rücksicht auf alle sonstigen Folgen erfüllt wird. Das Sittengesetz ist ein Gebotschlechthin, ein kategorischer Imperativ. Es gilt bedingungslos und absolut, während die hypothetischen Imperative nur relativ sind.

Fragt man nun nach dem Inhalt des kategorischen Imperativs, so ist klar, daß er keine empirische Bestimmung enthalten kann: die Forderung des Sittengesetzes bezieht sich nicht auf die »Materie des Wollens« Darum eignet sich auch die Glückseligkeit nicht zum Prinzip der Moral: denn das Streben nach Glückseligkeit ist empirisch schon vorhanden, es ist nicht erst eine Forderung der Vernunft. Die eudämonistische Moral führt daher zu lauter hypothetischen Imperativen: für sie sind die sittlichen Gesetze nur »Ratschläge der Klugheit«, wie man es am besten anfange, das natürliche Wollen zu befriedigen. Aber das Sittengesetz verlangt eben ein anderes Wollen als das natürliche: es ist zu Höherem da, als uns glücklich zu machen. Hätte die Natur unsere Bestimmung in die Glückseligkeit legen wollen, so würde sie besser getan haben, uns mit dem unfehlbaren Instinkte auszurüsten, als mit der praktischen Vernunft des Gewissens, das mit unseren Trieben fortwährend im Konflikte ist.933 Die Glückseligkeitsmoral ist für Kant sogar der Typus der falschen Moral: denn in ihr gilt gerade überall, daß ich etwas tun soll deshalb, weil ich ein anderes will. Jede solche Moral ist heteronomisch: sie macht die praktische Vernunft von etwas außer ihr Gegebenem abhängig, und dieser Vorwurf trifft auch alle Versuche, das Prinzip der Sittlichkeit in metaphysischen Begriffen, wie der Vollkommenheit, zu suchen. Die theologische Moral vollends weist Kant mit der größten Energie von sich; denn sie verquickt alle Arten der Heteronomie, wenn sie die Sanktion im göttlichen Willen, das Kriterium in der Utilität und das Motiv in der Erwartung von Lohn und Strafe sieht.

3. Der kategorische Imperativ muß der Ausdruck der Autonomie der[463] praktischen Vernunft, d.h. der reinen Selbstbestimmung des vernünftigen Willens sein. Er betrifft deshalb lediglich die Form des Wollens und verlangt, daß diese ein allgemeingültiges Gesetz sei. Der Wille ist heteronom, wenn er einem empirisch gegebenen Triebe folgt; er ist autonom nur, wo er ein selbstgegebenes Gesetz ausfahrt. Der kategorische Imperativ verlangt also, statt nach Triebimpulsen vielmehr nach Maximen zu handeln, und zwar nach solchen, welche sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung für alle vernünftig wollenden Wesen eignen. »Handle so, als ob die Maxime deines Handelns durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.«

Diese rein formale Bestimmung der Gesetzmäßigkeit gewinnt nun eine sachliche Bedeutung durch die Reflexion auf die verschiedenen Arten der Werte. Im Reich der Zwecke hat dasjenige einen Preis, was zu irgend welchen Zwecken dienlich und deshalb durch anderes ersetzbar ist; aber nur das hat Würde, was absolut in sich selbst wertvoll und die Bedingung ist, um deren willen anderes wertvoll werden kann. Diese Würde gebührt in erster Linie dem Sittengesetz selbst, und deshalb darf das Motiv, welches den Menschen zu dessen Befolgung veranlaßt, nur die Achtung vor dem Gesetze selbst sein: es wäre entwürdigt, wenn es um irgend welcher Vorteile willen äußerlich erfüllt würde. Die Würde des Sittengesetzes geht nun aber auf den Menschen über, der im ganzen Umkreise der Erfahrung allein bestimmt und befähigt ist, sich nach diesem Gesetze selbst zu bestimmen, sein Träger zu sein und sich mit ihm zu identifizieren. Daher ist Achtung vor der Würde des Menschen für Kant das inhaltliche Prinzip der Sittenlehre. Der Mensch soll seine Pflicht tun nicht um seines Vorteils willen, sondern aus Achtung vor sich selbst, und er soll in dem Verkehr mit dem Nebenmenschen es sich zur Richtschnur machen, diesen niemals als ein bloßes Mittel für die Erreichung sonstiger Zwecke zu behandeln, sondern in ihm stets die Würde der Persönlichkeit zu ehren.

Hieraus hat Kant934 eine stolze und strenge Moral abgeleitet, welche in der Darstellung seines Alters die Züge des Rigorismus und einer gewissen pedantischen Schroffheit nicht verkennen läßt. Aber der Grundzug des Gegensatzes zwischen Pflicht und Neigung liegt tief in seinem System begründet. Das Prinzip der Autonomie erkennt nur das pflichtmäßige Wollen aus Maximen als sittlich an: es sieht in jeder Motivierung des sittlichen Handelns durch natürliche Antriebe eine Fälschung der reinen Moralität. Nur was lediglich als Pflicht geschieht, ist sittlich. Die empirischen Triebfedern der menschlichen Natur sind deshalb an sich ethisch indifferent; aber sie werden böse, sobald sie sich gegen die Forderung des Sittengesetzes auflehnen, und das moralische Leben des Menschen besteht darin, das Gebot der Pflicht im Kampfe gegen die Neigungen zu verwirklichen.

4. Die Selbstbestimmung des vernünftigen Willens ist also die oberste Forderung und Bedingung aller Sittlichkeit. Allein sie ist im Bereiche der durch Kategorien gedachten und erkannten Erfahrung unmöglich: denn diese kennt nur die Bestimmung jeder einzelnen Erscheinung durch andere; die Selbstbestimmung, als Vermögen eine Reihe des Bedingten anzufangen, ist nach den Prinzipien der theoretischen Erkenntnis unmöglich. Nach den letzteren[464] ist jedes einzelne empirische Wollen durch ein anderes, d.h. durch ein inhaltliches Motiv bestimmt: das Sittengesetz aber verlangt ein freies Wollen, welches nur durch die Form des Gesetzes bestimmt sein soll. Sittlichkeit ist also nur durch Freiheit möglich, d.h. durch das Vermögen einer Handlung. welche nicht nach dem Schema der Kausalität durch andere bedingt, sondern nur durch sich selbst bestimmt, ihrerseits die Ursache einer endlosen Reihe von natürlichen Vorgängen ist.935 Hätte daher die theoretische Vernunft, deren Erkenntnis auf Erfahrung beschränkt ist, über die Realität der Freiheit zu entscheiden, so müßte sie diese leugnen, damit aber auch die Möglichkeit des sittlichen Lebens verwerfen. Nun hat aber die Kritik der reinen Vernunft gezeigt, daß die theoretische Vernunft über die Dinge-an-sich gar nichts aussagen kann, und daß es demgemäß kein Widerspruch ist, die Möglichkeit der Freiheit für das Uebersinnliche zu denken. Zeigt sich aber, daß Freiheit notwendig real sein muß, wenn Sittlichkeit möglich sein soll, so ist eben damit die Realität der Dinge-an-sich und des Uebersinnlichen gewährleistet, welche für die theoretische Vernunft immer nur problematisch bleiben konnte.

Diese Gewährleistung ist freilich nicht diejenige eines Beweises, sondern diejenige des Postulats. Sie beruht auf dem Bewußtsein: du kannst, denn du sollst. So wahr du das Sittengesetz in dir fühlst, so wahr du an die Möglichkeit ihm zu folgen glaubst, so wahr mußt du auch an die Bedingungen dafür, an Autonomie und Freiheit glauben. Die Freiheit ist kein Gegenstand des Wissens, sondern ein Gegenstand des Glaubens, – aber eines Glaubens, der auf dem Gebiete des Uebersinnlichen ebenso allgemein und notwendig gilt wie im Bereiche der Erfahrung die Grundsätze des Verstandes, – eines apriorischen Glaubens.

So wird die praktische Vernunft vollkommen unabhängig von der theoretischen. In der früheren Philosophie herrschte »der Primat« der theoretischen Vernunft über die praktische: es sollte durch das Wissen ausgemacht werden, ob und wie es Freiheit gibt, und danach über die Realität der Sittlichkeit entschieden werden. Nach Kant ist die Realität der Sittlichkeit die Tatsache der praktischen Vernunft, und darum muß an die Freiheit als an die Bedingung ihrer Möglichkeit geglaubt werden. Aus diesem Verhältnis ergibt sich aber nun für Kant der Primat der praktischen Vernunft über die theoretische: denn die erste ist nicht nur fähig, zu gewährleisten, worauf die letztere verzichten muß, sondern es zeigt sich auch, daß die theoretische Vernunft in jenen Ideen des Unbedingten, womit sie über sich selbst hinausweist (§ 38, 9), durch die Bedürfnisse der praktischen bestimmt ist.

Damit erscheint bei Kant in neuer, völlig origineller Form die platonische Lehre von den zwei Welten des Sinnlichen und des Uebersinnlichen, der Erscheinungen und der Dinge-an-sich. Auf jene führt das Wissen, auf diese das Glauben; jene ist das Reich der Notwendigkeit, diese das Reich der Freiheit. Das gegensätzliche und doch aufeinander bezogene Verhältnis beider Welten zeigt sich zumeist am Wesen des Menschen, der allein gleichmäßig beiden angehört. Sofern der Mensch ein Glied der Naturordnung ist, erscheint[465] er als empirischer Charakter, d.h. seinen bleibenden Eigenschaften ebenso wie seinen einzelnen Willensentscheidungen nach als ein notwendiges Produkt in dem kausalen Zusammenhange der Erscheinungen; allein als Glied der übersinnlichen Welt ist er intelligibler Charakter, d.h. ein durch freie Selbstbestimmung in sich entschiedenes Wesen. Der empirische Charakter ist nur die für das theoretische Bewußtsein an die Regel der Kausalität gebundene Erscheinung des intelligiblen Charakters, dessen Freiheit allein die Verantwortlichkeit, wie sie im Gewissen hervortritt, zu erklären vermag.

5. Freiheit ist aber nicht das einzige Postulat des apriorischen Glaubens. Die Beziehungen zwischen der sinnlichen und der sittlichen Welt erfordern noch einen allgemeineren Zusammenhang, den Kant im Begriffe des höchsten Gutes findet.936 Das Ziel des sinnlichen Willens ist die Glückseligkeit, das Ziel des sittlichen Willens ist die Tugend: diese beiden dürfen nicht zueinander in das Verhältnis des Mittels zum Zweck treten. Das Streben nach Glückseligkeit macht nicht tugendhaft, und die Tugend darf weder glückselig machen wollen noch tut sie es. Zwischen beiden besteht empirisch kein kausaler und darf ethisch kein teleologischer Zusammenhang eintreten. Allein da der Mensch ebenso der sinnlichen wie der sittlichen Welt angehört, so muß das »höchste Gut« für ihn in der Vereinigung von Tugend und Glückseligkeit bestehen. Diese letzte Synthesis der praktischen Begriffe kann aber moralisch nur so gedacht werden, daß Tugend allein der Glückseligkeit würdig sei.

Der damit ausgesprochenen Forderung des moralischen Bewußtseins wird jedoch durch die kausale Notwendigkeit der Erfahrung nicht Genüge getan. Das Naturgesetz ist ethisch indifferent und leistet keine Gewahr dafür, daß Tugend notwendig zur Glückseligkeit führe: umgekehrt lehrt vielmehr die Erfahrung, daß Tugend den Verzicht auf empirisches Glück verlangt und daß Untugend mit zeitlicher Glückseligkeit vereinbar ist. Fordert deshalb das ethische Bewußtsein die Realität des höchsten Gutes, so muß der Glaube über das empirische Menschenleben und über die Naturordnung in das Uebersinnliche hinübergreifen. Er postuliert eine über die zeitliche Existenz hinausreichende Realität der Persönlichkeit – das unsterbliche Leben – und eine sittliche Weltordnung, die in einer höchsten Vernunft begründet ist, in Gott.

Kants »moralischer Beweis« für Freiheit, Unsterblichkeit und Gottheit ist also kein Beweis des Wissens, sondern der des Glaubens: die Postulate sind die Bedingungen des sittlichen Lebens, und ihre Realität muß ebenso geglaubt werden wie dieses. Aber sie bleiben damit theoretisch so wenig erkennbar wie zuvor.

6. Der Dualismus von Natur und Sittlichkeit kommt bei Kant am schroffsten in der Religionsphilosophie zu Tage, deren Prinzipien er seiner Erkenntnistheorie gemäß nur in der praktischen Vernunft suchen konnte: Allgemeinheit und Notwendigkeit im Verhältnis zum Uebersinnlichen gewährt nur das sittliche Bewußtsein. A priori kann in der Religion nur gelten, was auf[466] Moral gegründet ist. Kants Vernunftreligion ist also keine Naturreligion, sondern »Moraltheologie«. Die Religion beruht auf der Vorstellung der sittlichen Gesetze als göttlicher Gebote.

Diese religiöse Lebensform der Moralität entwickelt Kant wiederum aus der Doppelnatur des Menschen. Es bestehen in ihm zwei Triebsysteme, das sinnliche und das sittliche: beide können wegen der Einheit der wollenden Persönlichkeit nicht ohne Beziehung zueinander sein. Ihr Verhältnis sollte nun nach sittlicher Anforderung die Unterordnung der sinnlichen Triebfedern unter die sittlichen sein: tatsächlich aber findet sich nach Kant beim Menschen von Natur das umgekehrte Verhältnis937, und da die sinnlichen Triebe böse sind, sobald sie sich gegen die sittlichen auch nur auflehnen, so ist im Menschen ein natürlicher Hang zum Bösen. Dies »Radikal-Böse« ist nicht notwendig; denn sonst gäbe es dafür keine Verantwortung. Es ist unerklärlich, aber es ist Tatsache, es ist eine Tat der intelligiblen Freiheit. Die Aufgabe, die daraus für den Menschen folgt, ist die Umkehrung der Triebfedern, welche durch den Kampf des guten und des bösen Prinzips in ihm herbeigeführt werden soll. Allein in jenem verkehrten Zustande wirkt die eherne Majestät des Sittengesetzes auf den Menschen nur mit niederschmetterndem Schrecken, und er bedarf daher zur Unterstützung seiner moralischen Triebfedern des Glaubens an eine göttliche Macht, die ihm das Sittengesetz als ihr Gebot auferlegt, aber auch zu dessen Befolgung die Hilfe der erlösenden Liebe gewährt.

Von diesem Standpunkt ausdeutet Kant die wesentlichen Stücke der christlichen Glaubenslehre zu einer »reinen Moralreligion« um: das Ideal der moralischen Vollkommenheit des Menschen im Logos, die Erlösung durch stellvertretende Liebe, das Geheimnis der Wiedergeburt. In dem Bestreben, aus den Lehren der positiven Religion das herauszuarbeiten, was vom Standpunkte der kritischen Philosophie her begründbar ist938, geht er mit der Verwendung überlieferter dogmatischer Vorstellungen weit über dasjenige hinaus, was als rein logische Konsequenz aus seiner theoretischen und praktischen Philosophie hätte abgeleitet werden können.939 Offenbar tut er dies aus persönlichem religiösem Erlebnis heraus, und er setzt damit, obwohl frei von dem historischen Glauben der Orthodoxie, die wahrhaft religiösen Motive, die im Erlösungsbedürfnis wurzeln, wieder in die Rechte ein, welche ihnen durch den Rationalismus der Aufklärung verkümmert worden waren. Aber freilich ist auch ihm die wahre Kirche nur die unsichtbare, das moralische Gottesreich, die sittliche Gemeinschaft der Erlösten. Die historischen Erscheinungen der moralischen Gemeinschaft der Menschen sind die Kirchen: sie bedürfen des Mittels der Offenbarung und des »statutarischen« Glaubens. Aber sie haben die Aufgabe, diese Mittel in den Dienst des sittlichen Lebens zu stellen, und wenn[467] sie statt dessen das Hauptgewicht auf das Statutarische legen, so verfallen sie der Lohndienerei und Heuchelei.

Die »Gemeinschaft der Heiligen« dagegen, der sittlich-religiöse Zusammenhang des menschlichen Geschlechts erscheint als das wahrhaft höchste Gut der praktischen Vernunft. Es greift weit über die subjektiv-individuelle Bedeutung einer Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit hinaus und hat zu seinem Inhalt die Verwirklichung des Sittengesetzes in der Entwicklung des Menschengeschlechts, das Reich Gottes auf Erden.940

7. Mit der Beschränkung der ethischen Beurteilung auf die Gesinnung hängt es zusammen, daß Kant in der Rechtsphilosophie diejenige Richtung verfolgte, welche diese möglichst unabhängig von der Moral behandelte. Kant unterschied (schon hinsichtlich der ethischen Würdigung) zwischen der Moralität der Gesinnung und der Legalität der Handlung, dem freiwilligen Gehorsam gegen das Sittengesetz und der äußerlichen Konformität der Handlung mit dem vom Gesetz Verlangten. Handlungen sind erzwingbar, Gesinnungen nie. Während die Moral von den Pflichten der Gesinnung redet, beschäftigt sich das Recht mit den erzwingbaren äußeren Pflichten der Handlungen und fragt nicht nach den Gesinnungen, aus denen sie erfüllt oder verletzt werden.

Und doch macht Kant den Zentralbegriff seiner gesamten praktischen Philosophie, die Freiheit, auch zur Grundlage der Rechtslehre. Denn auch das Recht ist eine Forderung der praktischen Vernunft und hat in dieser sein a priori geltendes Prinzip: es kann daher nicht als ein Produkt empirischer Interessen abgeleitet werden, sondern muß aus der allgemeinen vernünftigen Bestimmung des Menschen begriffen werden. Diese ist die Bestimmung zur Freiheit. Die Gemeinschaft der Menschen besteht aus solchen Wesen, welche zur sittlichen Freiheit bestimmt, aber noch in dem natürlichen Zustande der Willkür begriffen sind, wobei sie sich gegenseitig in den Sphären ihrer Wirksamkeit stören und hemmen: das Recht hat die Aufgabe, die Bedingungen festzustellen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür der andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit vereinigt werden kann, und durch Erzwingung dieser Bedingungen die Freiheit der Persönlichkeit sicher zu stellen.

Aus diesem Prinzip folgt analytisch nach Kants Konstruktion das gesamte Privatrecht, Staatsrecht und Völkerrecht. Dabei ist es jedoch interessant zu beobachten, wie überall die Prinzipien der Sittenlehre in dieser Konstruktion maßgebend werden. So ist es im Privatrecht ein weittragender Grundsatz, daß – entsprechend dem kategorischen Imperativ – der Mensch niemals als Sache gebraucht werden darf. So wird die Strafgewalt des Staats nicht durch die Aufgabe der Aufrechterhaltung des Rechtszustandes, sondern durch die sittliche Notwendigkeit der Vergeltung begründet.

Die Geltung des Rechts ist im Naturzustande nur provisorisch, sie ist vollständig oder, wie Kant sagt, peremtorisch erst, wo sie sicher erzwingbar ist, im Staat. Die Richtschnur für die Gerechtigkeit im Staatswesen findet Kant darin, daß nichts beschlossen und ausgeführt wird, was nicht hätte beschlossen werden können, wenn der Staat durch einen Vertrag zustande gekommen[468] wäre. Die Vertragstheorie ist hier nicht eine Erklärung für das empirische Zustandekommen, sondern eine Norm für die Aufgabe des Staats. Diese Norm ist bei jeder Art von Verfassung erfüllbar, wenn nur wirklich nicht die Willkür, sondern das Gesetz herrscht: am sichersten ist ihre Verwirklichung, wenn die drei öffentlichen Gewalten der Gesetzgebung, Ausführung und Rechtsprechung unabhängig voneinander sind, und wenn die gesetzgebende Gewalt in der »republikanischen« Form des repräsentativen Systems organisiert ist, was eine monarchische Exekutive nicht ausschließt. Erst damit, meint Kant, wird die Freiheit des einzelnen so weit gesichert sein, wie sie ohne Beeinträchtigung der Freiheit der übrigen bestehen kann, und erst wenn alle Staaten diese Verfassung angenommen haben, kann der Naturzustand, worin sie sich jetzt noch miteinander befinden, einem Rechtszustande Platz machen. Dann wird auch das Völkerrecht, das jetzt nur provisorisch ist, »peremtorisch« werden.

8. Auf religionsphilosophischen und rechtsphilosophischen Grundlagen baut sich endlich Kants Ansicht von der Geschichte auf941; sie hat sich an Rousseau und Herder in derjenigen Abhängigkeit entwickelt, welche aus dem Gegensatz entspringt. Kant vermag in der Geschichte weder den Abweg von einem ursprünglich guten Zustande des Menschengeschlechts zu sehen noch die naturnotwendig selbstverständliche Entwicklung seiner ursprünglichen Anlage. Hat es je einen paradiesischen Urzustand der Menschheit gegeben, so war es der Stand der Unschuld, in welchem sie sich, ganz ihren natürlichen Trieben lebend, der sittlichen Aufgabe überhaupt noch nicht bewußt war. Der Beginn der Kulturarbeit aber war nur durch einen Bruch mit dem Naturzustande möglich, indem das Sittengesetz an seiner Uebertretung zum Bewußtsein kam. Dieser (theoretisch unbegreifliche) Sündenfall ist der Anfang der Geschichte. Der früher ethisch indifferente Naturtrieb ist nun böse geworden und soll bekämpft werden.

Seitdem besteht der Fortschritt der Geschichte nicht in einem Wachsen der menschlichen Glückseligkeit, sondern in der Annäherung an die sittliche Vollkommenheit und in der Ausbreitung der Herrschaftsittlicher Freiheit. Mit tiefem Ernst nimmt Kant den Gedanken auf, daß die Entwicklung der Zivilisation nur auf Kosten der individuellen Glückseligkeit erfolgt. Wer diese zum Maßstab nimmt, darf nur von einem Rückschritt in der Geschichte reden Je verwickelter die Verhältnisse werden, je mehr die Lebensenergie der Kultur wächst, um so mehr steigen die individuellen Bedürfnisse, und um so geringer wird die Aussicht, sie zu befriedigen. Aber gerade dies widerlegt die Meinung der Aufklärer, als sei Glückseligkeit die Bestimmung des Menschen. Im umgekehrten Verhältnis mit der empirischen Befriedigung des einzelnen wächst die sittliche Gestaltung des Ganzen, die Herrschaft der praktischen Vernunft. Und da die Geschichte das äußere Zusammenleben der Menschheit darstellt, so ist ihr Ziel die Vollendung des Rechts, die Herstellung der besten Staatsverfassung bei allen Völkern, der ewige Friede, – ein Ziel, dessen Erreichung wie bei allen Ideen und Idealen im Unendlichen liegt.[469]

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 462-470.
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