Angemessen

[52] Angemessen. (Schöne Künste)

Das Zufällige in einer Sache, das mit dem Wesentlichen sehr genau überein kommt, und ihm dadurch eigen wird. Ein angemessener Ausdruk ist der, darin alle Worte so gewählt werden, wie sie sich zum Wesen am genauesten schiken. Ein langsamer Ausdruk ist der langsamen Vorstellung angemessen; ein schneller der lebhaften. Niedrige Wörter sind niedrigen, und hohe erhabenen Vorstellungen angemessen. Ein Beyspiel eines sehr angemessenen Ausdruks giebt uns folgende Stelle des Sophokles in der Elektra. Diese Prinzeßinn sagt zu ihrer Schwester:1


– – Σοι δε πλοσια

Τραπεζα κειϑω, καὶ περιῤῥειτω βιος.

Εμοι γαρ ἐςω τ - ὀμε μη λυπειν μονον

Βοσκημα.


Dir werde eine kostbare Tafel gedekt, und Ueberfluß herrsche in deiner Lebensart; mein Brod aber sey blos zur Nothdurft. Der fürstlichen Lebensart der Chrysothemis sind die Worte, kostbare Tafel, angemessen; der niedrige Ausdruk, des täglichen Brodes, (βοσκημα, Futters) der unterdrükten Elektra.

[52] Es ist sehr wesentlich, daß sich jeder Künstler auf das angemessene äußerst befleiße. Denn entweder ist das Zufällige so unbestimmt, daß es sich zu verschiedenen Sachen schikt; oder es ist gar der Sache unangemessen. In diesem letzten Falle ist es anstößig, weil es ungereimt ist: im andern Falle aber vermißt man wenigstens den Reiz, der vom Angemessenen her kommt. Zwar werden Künstler von feinem Geschmake selten in den Fehler des Unangemessenen verfallen; aber das genau angemessene erfodert große Scharfsinnigkeit und feinen Witz. Eben darum aber giebt es den Werken des Geschmaks eine große Schönheit.

Man sieht bisweilen Menschen, bey denen alles Zufällige, ihre Figur, ihre Gesichtszüge, Gebehrden, jeder kleinste Anstand, so genau mit dem, was sie sind, überein stimmen, daß man sie mit dem größten Vergnügen betrachtet. So muß in jedem vollkommenen Werke der Kunst alles angemessen seyn. Alsdenn wird man es immer mit neuem Vergnügen genießen. Denn der Geist wird nimmer gesättiget, feine Uebereinstimmungen zu bemerken.

Wie wol alle Künstler sich auf das Angemessene äußerst befleißen müssen, so ist es doch den Schauspielern vorzüglich nöthig. Wenn sie gefallen wollen, so muß in ihrer ganzen Person nichts seyn, das dem Stand und Charakter der Person, die sie vorstellen, nicht genau angemessen sey.

1Electi. vs. 363.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 52-53.
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