Chromatisch

[206] Chromatisch. (Musik)

Diesen Namen gaben die Alten einem ihrer Hauptsystemen der Musik, in welchem die vollkommene Quarte vier Sayten hatte, dergestalt gestimmt, daß die zweyte gegen die erste, und die dritte gegen die zweyte, Intervalle ausmachten, die etwas kleiner waren, als ein halber Ton, die vierte gegen die dritte aber ein Intervall, das ohngefähr mit unsrer kleinen Terz übereinkommt. Also könnten folgende Töne der heutigen Tonleiter

Chromatisch

ohngefähr die vier Töne eines chromatischen Tetrachords vorstellen. Dieses System aber hatte noch verschiedene Arten. Aristoxenus setzt drey Arten des chromatischen Geschlechts, die er die weiche, die bemiolische und die tonische nennt. Die Verhältnisse der Intervalle dieser drey Arten bestimmt er so. Er theilet die reine Quarte in Gedanken in 60 Theile, und nimmt für die drey Intervalle folgende Verhältnisse:


Für die chromatische weiche Art 8; 8; 44.

Für die chromatische hemiolische Art 9; 9; 42.

Für die chromatische tonische Art 12; 12; 36.


Also waren in dem weichen chromatischen die zwey ersten Intervalle ohngefähr Dritteltöne, und das dritte etwas grösser als eine kleine Terz; in dem tonischen aber waren die zwey ersten Intervalle halbe Töne, und das dritte ein Intervall von einem ganzen und einem halben Ton, etwas kleiner als unsre kleine Terz.

Ptolomäus giebt nur zwey Arten des chromatischen Systems an, das weiche oder alte, und das harte. Für jenes giebt er folgende Intervalle: 27/28; 14/15; 5/6; für dieses aber folgende: 21/22; 11/12; 6/7.

Da wir überhaupt nicht mit Gewißheit sagen können, wie die Alten ihre Tonleitern zum musikalischen Satz gebraucht haben, so läßt sich auch der Gebrauch dieser chromatischen Systemen nicht bestimmen.

In der heutigen Musik haben wir eigentlich nur das Diatonische Geschlecht beybehalten: indessen geschieht es doch ofte, daß zu der Melodie Töne genommen werden, die nicht in die diatonische Leiter des Grundtones, darin man singt, gehören. Diese werden alsdenn chromatische Töne genennt. Besonders nennt man diejenigen Stellen des Gesanges chromatisch, wo derselbe durch verschiedene halbe Töne hintereinander steigt oder fällt. Ein solcher Gang drukt also natürlicher Weise allemal etwas aus, das dem freyen Wesen der grössern diatonischen Fortschreitung entgegen ist, und dienet insbesondere, solche Leidenschaften auszudruken, die das Gemüth in eine Beklemmung setzen, und etwas Trauriges haben, Schmerz und Betrübniß, Schreken, Furcht und auch Wuth. Da aber die chromatische Fortschreitung im Grunde die Schönheit des Gesanges und der Harmonie hemmet, so muß sie in einem Stük nicht allzu ofte, sondern nur an den Stellen angebracht werden, wo der Affekt besonders auszuzeichnen ist. Ganze Stüke in chromatischen Fortschreitungen haben etwas gezwungenes.

Die chromatischen Fortschreitungen erfodern einen besondern Gang des Grundbasses. Aufsteigende Fortschreitungen entstehen natürlicher Weise, wenn der Baß wechselsweise um eine Terz fällt, und um eine Quarte steiget, wie in diesem Exempel:

Chromatisch

[206] Absteigende Fortschreitungen werden durch hintereinander folgende Dominanten im Basse veranlaset. Diese chromatischen Gänge, haben ihre Einschränkungen. Von dem Tone, von welchem man sie anfängt, kann man nicht mehr, als höchstens fünf Stufen fortschreiten; in einem Durton z. E. von der Terz bis zur Sexte. Denn weder die kleine Terz noch die Sexte, dürfen in dieser Tonart vorkommen. Ueberhaupt können in solchen Gängen nur diejenigen fremde halbe Töne angebracht werden, die Subsemitonia solcher Töne sind, dahin man ausweichen könnte.

Man giebt auch der heutigen Tonleiter, nach welcher die Octave in zwölf Intervalle, jedes von einem grössern oder kleinern halben Ton, eingetheilet ist, den Namen des diatonisch-chromatischen Systems. Im Grund ist es blos ein aus vielen diatonischen Leitern der harten Tonart zusammengesetztes System, welches entstehet, wenn zu jedem, der diatonischen Stufe des C dur zugehörigen Tone, ebenfalls seine diatonischen Stufen der harten Tonart hinzugethan, alle daher entstehende Töne aber, in den Bezirk einer Octave gebracht werden. Daher entstehet nur beyläufig, daß allemal zwischen zwey auf einander folgende ganze diatonische Töne noch ein halber Ton eingeschaltet wird, der denn, als ein chromatischer Ton desjenigen Grundtones, zu welchem er diatonisch nicht gehört, angesehen werden kann. Und so können wir, ob wir gleich im Grunde nur ein einziges, und zwar das harte diatonische Klanggeschlecht haben, sowol chromatisch fortschreiten, als auch aus der weichen Tonart spielen. Bey den Alten war das chromatische Geschlecht nicht zufällig wie bey uns, sondern machte ein eigenes, besondern Gesetzen unterworfenes Geschlecht aus, das andre Stufen hatte, als das, was wir so nennen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 206-207.
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