Einheiten

[304] Einheiten. (Dichtkunst)

Seitdem man angemerkt hat, daß die griechischen Dichter in ihren scenischen Schauspielen eine dreyfache Einheit beobachtet haben, nämlich die Einheit der Handlung, des Orts und der Zeit, ist vielfältig über diese drey Einheiten in Absicht auf die Vollkommenheit des Drama geschrieben worden. Dasjenige, was in dem vorhergehenden Artikel von der Einheit überhaupt abgehandelt worden, wird uns hinlängliche Grundsätze an die Hand geben, die Materie von diesen drey Einheiten in ein völliges Licht zu setzen.

Weil das Drama die Vorstellung einer wichtigen und lehrreichen Handlung ist, die sich der Einbildungskraft reizend darstellt, so ist die Einheit der Handlung dabey schlechterdings nothwendig, weil man ohne dieselbe die Handlung sich weder bestimmt noch viel weniger reizend vorstellen kann. Wiewol nun zu jeder Handlung nothwendig Zeit und Ort erfodert werden, so kann man doch dergestalt das Gemüth bey der Betrachtung der Handlung von beyden abziehen, daß man sich weder die eine noch den andern klar dabey vorstellt. Wenigstens kann es seyn, daß weder die Länge und Unterbrechung der Zeit, noch die Verschiedenheit der Oerter, der Einheit der Handlung nicht den geringsten Schaden thun.

Damit aber wollen wir nicht sagen, daß die zufälligen Einheiten im Drama ganz unnöthig seyen. Die Handlung des Drama geschieht vor unsern Augen, wir können uns also nicht enthalten, die Zeit darin sie geschieht, nach dem Maaße der Zeit, in welcher wir zugesehen haben, abzumessen; ein starker Widerspruch in dieser Abmessung würde uns beleidigen, und unsre Aufmerksamkeit auf die Einheit der Handlung hindern. Eben dieses bemerken wir von der Einheit des Orts, den wir mit dem Orte, wo wir sind, in Vergleichung stellen.

Es verlangen also einige Kunstrichter, daß die Handlung des Drama, wie Aristoteles fodert, auf die Zeit eines einzigen Tages eingeschränkt seyn soll, wiewol sie für nothwendig halten, daß diese ganze Zeit auf ein paar Stunden der wahren Zeit könne zusammengezogen werden, weil es der Einbildungskraft leicht ist, den Zwischenraum der Aufzüge sich länger vorzustellen, als er würklich sey. In Ansehung der Einheit des Orts, verlangen sie, daß die ganze Handlung auf einer Stelle geschehe, so daß alle handelnden Personen, so ofte sie auftreten, beständig auf demselben Platz erscheinen.

Die Alten haben diese Einheit des Orts beständig und auf das sorgfältigste beobachtet. Der Platz, auf welchem die Handlung angefangen, war der, auf dem alles, was darin sichtbar erscheinet, ist fortgesetzt und vollführt worden. Sie waren um so viel mehr an die genaue Einheit des Orts gebunden, weil der Chor die ganze Handlung durch auf der Schaubühne stuhnd. Mithin würde es ungereimt gewesen seyn, den Ort der Handlung zu verändern, da man doch dieselben Personen unbeweglich vor sich gesehen hatte.

In Ansehung der Zeit sind sie nicht allemal so genau gewesen. Bisweilen haben sie das, was kaum in 24 Stunden geschehen kann, in wenig Minuten geschehen lassen, wie aus der Hermione des Euripides erhellet, ingleichen aus den um Hülfe flehenden desselben Dichters.

Es ist indessen gewiß, daß die Alten, insonderheit in ihren Trauerspielen, so einfache Handlungen eingeführt haben, daß die Einheiten der Zeit und des Orts dabey fast nothwendig geworden. Was ist z. E. einfacher, als diese Handlung: Ajax der im Kopf irre geworden, und in der Nacht aus seinem Zelt einen Ausfall auf eine Heerde Vieh gethan, die er für das Heer der Griechen gehalten hat, bekommt in seinem Zelt einen Zwischenraum von Verstand, erfährt von seiner Beyschläferin, was er in der Tollheit gethan hat, und bringt sich selbst ums Leben. Wer ein so fruchtbares Genie hat, aus dieser einfachen Begebenheit ein Trauerspiel zu machen, dem wird es nicht schweer ankommen, die Einheiten der Zeit und des Orts zu beobachten.

Den Neuern muß dieses desto schweerer werden, weil sie gerne Handlungen von weitem Umfange mit viel Vorfällen angefüllt zum Grund legen, da es denn ofte ganz unmöglich ist, alles dem Raum und der Zeit nach so sehr in die Enge zu zwingen. [304] Diese zufälligen Einheiten sind aber nicht blos der Wahrscheinlichkeit halber zu beobachten, sondern hauptsächlich darum, weil dadurch die Einheit der Handlung desto vollkommener wird. Je mehr man von dem, was zur Handlung gehört, selbst siehet, je weniger hinter dem Vorhang, oder zwischen den Aufzügen vorgeht, je genauer und leichter merkt man alle Verbindungen. Getrennte Scenen thun der Vollkommenheit der Handlung merklichen Schaden; die Veränderung des Orts aber trennt sie.

Wir halten demnach das Drama, darin alle Einheiten beobachtet werden, allerdings für vollkommener in seiner Art, als die andern. Doch wollen wir deswegen die Uebertretung der zufälligen Einheiten nicht schlechterdings verwerfen. Wenn nur die Einheit der Handlung beobachtet wird, wenn sie hinlänglich in einem fortgeht, wenn unsre Aufmerksamkeit auf das Wesentliche der Handlung so stark gespannt erhalten wird, daß wir das Zufällige übersehen; so wollen wir ihm die Fehler gegen die andern Einheiten vergeben, wenn sie nur nicht so groß sind, daß die Aufmerksamkeit auf die Hauptsache dadurch merklich gehemmt wird.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 304-305.
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