Gesichtskreis

[470] Gesichtskreis. (Zeichnende Künste)

Bedeutet den ganzen Raum, den ein Mensch mit unverwandtem Aug auf einmal übersehen kann, oder würklich übersieht. Es kömmt in den zeichnenden Künsten bey verschiedenen Gelegenheiten viel darauf an, wie weit der Gesichtskreis ausgedähnt oder eingeschränkt werde. Wenn man setzet, das Aug liege in dem Mittelpunkt einer holen Kugel, so ist ohngefehr die Hälfte der, vor dem Auge liegenden, Hälfte der Kugelfläche ihr Gesichtskreis. Dieses wird aus folgender Vorstellung deutlich werden.

Gesichtskreis

Bey a ist der Mittelpunkt des halben Cirkels d g h f e, den man sich entweder in einer waagerechten oder in einer senkrechten Fläche liegend vorstellen kann. In diesem Punkte liegt der Stern des Auges, wodurch das Licht ins Aug fällt. Nun können zwar aus jedem Punkte des halben Zirkels, wenn man nur die Punkte e und d ausnihmt, Lichtstrahlen in das Aug fallen; aber die Strahlen, die ein deutliches Sehen verursachen sollen, müssen so einfallen, daß sie auch zugleich durch die so genannte crystallene Linse des Auges b c durchfallen, die in einiger Entfernung hinter dem Augenstern liegt. Daher kann kein Punkt der Bogen d g oder e f sichtbar werden, und nur die Punkte des Zirkels, die in dem Bogen f h g liegen, sind sichtbar. Wenn man nun setzet, daß sich der Zirkel an der Linie a h, als an einer Axe herumdrähte, so beschreibet der Bogen f h g eine Kugelfläche, die der eigentliche Gesichtskreis des Auges ist. Alles was in der Höle der Kugel außer dieser Fläche liegt, ist unsichtbar.

Ganz genau läßt sich die Größe des Bogens f h g nicht bestimmen, weil der Abstand der cristallenen Linse vom Augenstern, nicht immer gleich ist. Man kann indessen zum Behuf der zeichnenden Künste für gewiß annehmen, daß der Bogen f h g nicht viel über den vierten Theil des ganzen Umkreises des Zirkels sey.

Bisweilen versteht man durch den Ausdruk Gesichtskreis, aber durch eine unrichtige Anwendung des Worts, die Höhe des Auges über dem Horizont, oder über die waagerechte Fläche der Erde, weil man von einem Gemählde sagt, es habe einen hohen oder niedrigen Horizont, wenn der Augenpunkt in einer großen oder geringen Höhe über dieser Fläche genommen wird. Davon wird in dem folgenden Artikel gesprochen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 470.
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