Redner

[964] Redner.

Die Griechen und Römer, die in allem, was zu den schönen Künsten gehört, unsre Lehrmeister sind, scheinen dem Redner den ersten Rang unter den Künstlern gegeben zu haben. Nur Homer allein, wurd als Lehrer und Muster aller Künstler, außer allen Rang und ohne Vergleichung, immer obenan gesezt; nicht weil er ein epischer Dichter, sondern, weil er Homer, das Muster aller Genien war.1 Wenn man bedenkt, was für Kräfte des Geistes, was für Gaben, Kenntnisse und erworbene Fertigkeit zu einem vollkommenen Redner erfodert werden, so scheinet es, daß bey ihm mehr seltene Fähigkeiten zusammentreffen, als bey irgend einem andern Künstler. Eben darin glaubte Cicero den Grund der so großen Seltenheit vollkommener Redner gefunden zu haben2, und er sagte einmal öffentlich, als eine bekannte unzweifelhafte Wahrheit, es gebe in einem Staate nur zweyerley vorzüglich wichtige Arten grosser Männer, nämlich Feldherren und Redner.3

Mehr, als irgend einem andern Künstler ist ihm ein durchdringender Verstand nöthig, um in allem, was die Menschen am meisten intereßirt, das Wahre,[964] Wichtige und Große richtig zu erkennen; nicht blos durch ein dunkeles, wiewol sicheres Gefühl zu empfinden, sondern mit hinlänglicher Klarheit und Deutlichkeit so zu sehen, daß es auch weniger Scharfsichtigen einleuchtend kann gemacht werden. Qui ratione plurimum valent, quique ea quæ cogitant quam facillimo ordine disponunt, ut clare et distincte cognoscantur, aptissima semper ad persuadendum dicere possunt.4 So urtheilt ein großer Philosoph.

Die Stärke, Lebhaftigkeit und den Reichthum der Einbildungskraft hat der Redner mit allen andern Künstlern gemein; sie sind ihm nöthig, weil er ofte sichtbare Gegenstände so hell und so lebhaft zu schildern hat, daß der Zuhörer sie mit Augen zu sehen glaubt, welches ihm nothwendig schweerer wird, als dem Dichter, dessen Sprache dazu bequämer ist. Auch sind ihm diese Gaben nöthig, weil er gar ofte abstrakte und aller Sinnlichkeit beraubte Gedanken, um sie sinnlich und eindringend zu machen, durch glükliche Tropen, körperlich darzustellen hat. Hingegen hat er auch mehr, als irgend ein Künstler Kräfte der kältern Vernunft nöthig, um seiner feurigen Phantasie beständig Meister zu bleiben; weil er weit genauer, als der Dichter, in einem gezeichneten Geleise bleiben, und wie Lucian sich ausdrukt5, so genau wie ein Seiltänzer auf dem Seile, fortschreiten muß.

Nicht weniger groß als der Verstand, muß auch das Herz des großen Redners seyn, die eigentliche Muse, die ihn begeistert. Er zeichnet sich durch das wärmeste Gefühl für die Rechte der Menschlichkeit, durch brennenden Eyfer für das allgemeine Beste des Staates, von jedem andern Künstler aus. Unrecht, wenn auch der geringste Mensch es leidet, ist ihm unerträglich, und falsche Maaßregeln, wodurch man in privat und in öffentlichen Geschäften, sich selber schadet, sind Auffoderungen an ihn, den Irrenden und den Thoren zurechte zu weisen. Sein höchstes Interesse ist Wahrheit, Ordnung und Weißheit in allem was zu den menschlichen Angelegenheiten gehöret, und diese fodert bey jeder Gelegenheit seine Gemüthskräfte zum Dienst andrer Menschen auf.

Und damit er nirgend unbereitet, oder ununterrichtet sey, macht er sich ein unabläßiges Studium daraus, alles, was irgend die Wolfarth der Menschen betrift, durch genaues Nachforschen, in seiner wahren Natur zu kennen, jedes genau abzuwägen, und sich überhaupt jede Kenntnis, die zu Beurtheilung jener Dinge dienet, zu erwerben.

Dieses sind die Gaben und die Bemühungen, die größtentheils den Redner bilden. Wenn er dieses hat, so wird ihm das, was zum Ausdruk und Vortrag der Rede gehöret, so wichtig es auch an sich ist, leicht. Wer erst jenes Wichtigere besizt, für den ist es denn, wie Euripides richtig bemerkt6, eine leichte Sache gut zu reden, so bald sich eine wichtige Gelegenheit dazu zeiget. Aber wem jene große Seele fehlet, oder wo sie nicht durch mancherley und gründliche Kenntnis den Stoff zum Reden besizt, da ist bloße Wolredenheit eine geringe Hülfe. Denn nicht der ist ein großer Redner, dem Worte und Redensarten zu Gebothe stehen; sondern der alle Sachen mit großen Verstand beurtheilet, und mit Empfindung behandelt. Aus diesem Grunde spottet Cicero des Antonius mit diesen Worten. »Der wolberedte Mann! Er merkt nicht, daß der, gegen den er spricht, von ihm gelobt werde, und daß er die, vor denen er redet, tadelt.«7 Nur ein unbeschreiblich kleiner Geist kann sich einbilden, daß das Studium der Rhetorik, die alle große Gaben und Kenntnisse des Redners voraussezet, und ihn blos über die Wahl, Anordnung und den Ausdruk der Sachen belehret, hinlänglich sey einen Redner zu bilden.

Οταν λαβη τις των λογων ἀνηρ σοφος

Καλας, ὀυ μεγ᾽ ἐργον ἐυλεγειν

Bachæ. vs. 266. 267.

1Aus einer Stelle in Lucians Lob des Demosthenes, wo einem Dichter eine kurze Vergleichung zwischen Homer und Demosthenes in den Mund gelegt wird, möchte man muthmaßen, daß Lucian dem Dichter den Redner wenigstens an die Seite gesezet, wo nicht gar ihm vorgezogen. Aber er scheuhete sich, die Sache gerade heraus zu sagen.
2Die Stelle ist Art. Rede angeführt worden.
3Duæ sunt Artes, quæ possunt locare homines in amplissimo gradu dignitatis: una imperatoris, altera, Oratoris boni. Orat. pro L. Muræna. c. 14.
4Cartes. de Methodo.
5Im Lehrer der Redner.
6
7Homo disertus, non intelligit eum, contra quem dicit laudari a se; eos apud quos dicit, vituperari. Philip. II. c. 8.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774.
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