Minerva

Fig. 222: Minerva
Fig. 222: Minerva
Fig. 223: Minerva
Fig. 223: Minerva
Fig. 224: Minerva
Fig. 224: Minerva
Fig. 225: Minerva
Fig. 225: Minerva
Fig. 226: Minerva
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[335] Minerva, (Gr. u. röm. M.), bei den Griechen Athene, Pallas Athene, auch Pallas allein. Pallas bedeutet nichts weniger, als Jungfrau, und Athene hängt jedenfalls mit dem Namen der Stadt Athen auf's Engste zusammen, so dass man vermuthen darf, die Göttin war ursprünglich nur athenische Local-Gottheit. Dabei ist aber nicht an das berühmte, sondern an ein weit älteres, frühe untergegangenes, von Pelasgern am copaïschen See in Böotien gegründetes Athen zu denken, das an der Mündung des Flüsschens Triton in den See gelegen haben soll, und eben darum heisst M. auch häufig Tritonia oder Tritogenia, und wenn man diesen Triton als Fluss oder See später in Libyen suchte, und Minerva dort geboren werden liess, so erklärt sich diess dadurch, dass Minyer aus Böotien nach Cyrene in Libyen gewandert waren und dort ihre uralten Stammsagen wieder einheimisch gemacht hatten. Schon bei Homer aber erscheint M. als allgemein verehrte griechische Gottheit mit einem so vollendeten Begriff, dass später keine wesentliche Veränderung desselben mehr eintreten konnte. Ihr Begriff ist Besonnenheit und Thatkraft, die sich in Handlungen voll Mass und Würde, reich an edlen Früchten, entfaltet. Daher wirkt sie in Allem, was die wahrhaft edle Gestaltung des menschlichen Lebens begründet: sie ist vor Allem Staatenschirmerin und Staatenerhalterin; Alles, was die Kraft und das Gedeihen des Staates fördert, Ackerbau, nützliche Erfindungen und Kunstfleiss, Beschirmung und Vertheidigung der Mauern, Burgen und Häfen, steht unter ihrer Obhut. Sie ist daher auch kriegerische Gottheit, aber in ganz anderem Sinne als Mars; während dieser sich nur des wilden Getümmels freut, ist M. die weise Kriegsgöttin, die den Krieg nur um des Vortheils willen führt. Als besonnene Kriegerin heisst sie die Hell- und Scharfblickende, Glaukopis, d.h. die Eulenäugige, mit Beziehung auf den Lichtblick der Eule in der Dämmerung. Eben darum ist dieser Vogel ihr besonders geheiligt. Sie erhält den Staat, aber weit mehr auf friedlichem, als kriegerischem Wege; sie schirmt den Ackerbau, hat den Pflug und den Rechen erfunden[335] die Spindel und den Webestuhl; der Oelbaum ist ihr Geschenk; sie lehrt Stiere anjochen und Rosse zügeln; erfindet die Flöte und die Trompete; ist die Schutzgöttin der den Staat bildenden Geschlechter ( Apaturia) und der Gerichtshöfe; sie hat den Areopag zu Athen gegründet. - Gewiss gereicht es dem griechischen Volksgeist zu hoher Ehre, zum äusseren Gefäss dieses so kräftigen und edel wirkenden göttlichen Geistes gerade die Person einer Jungfrau gewählt zu haben. Diese Jungfräulichkeit bildet denn auch den Grundzug aller der Sagen, die von ihr erzählen. Sie ist die Tochter des höchsten Jupiter, aus seinem Haupte geboren. Nach Späteren hatte Jupiter zuvor seine mit M. schwangere Gemahlin Metis in seinem eigenen Leibe eingekerkert, und musste nun ihr Kind aus seinem Haupte gebären. M. beschirmte alle Helden, die mit kühnem Muthe auch kluge Besinnung verbanden, den Hercules, Perseus, Bellerophon, Achilles, Diomedes, und vor Allen den Ulysses. Im Gigantenkampfe steht sie dem Jupiter und dem Hercules mit klugem Rathe bei, und nimmt selbst Theil daran. Als Jungfrau blendet sie den Tiresias, der sie nackt im Bade gesehen, flieht den Vulcan, der ihr Gewalt anthun will ( Erichthonius), und kommt nur bekleidet zu Paris im Streite der drei Göttinnen. - M. war in ganz Griechenland hoch verehrt, aber ganz vorzüglich zu Athen, wo sie die allerälteste Stadtgottheit war. Hier wurden ihr die schönsten Feste gefeiert, die Arrhephorien, die Scirophorien (von Sciron, Sonnenschirm, weil ein weisser Sonnenschirm von ihren Priesterinnen von der Burg herab in ihren Tempel im Stadtviertel Sciron in feierlichem Aufzug getragen wurde, im Monat Scirophorion, der Mitte Juni's begann); und das[336] glänzendste von allen, das eigenthümlichste attische Nationalfest, die Panathenäen. Es gab grosse und kleine Panathenäen. Die grossen wurden alle vier Jahre, jedesmal im dritten Jahr einer Olympiade, begangen, und währten vier Tage, vom 25.-28. Hecatombäon, um die Mitte Augusts. Auf die Wettkämpfe des Wettrennens, der körperlichen Uebungen und der Musik und Poësie, wofür die Kampfpreise in Oelbaumkränzen und schönen Gefässen bestanden, folgte am letzten der feierliche Aufzug und das Festopfer mit gemeinsamem Schmause. Die Hauptsache bei jenem Aufzuge war der Peplos, ein mit der kunstvollsten Stickerei reich geschmücktes Obergewand, welches attische Jungfrauen der Göttin gewoben hatten. Die Vorstellungen darauf bezogen sich auf die Thaten der Göttin, namentlich im Gigantenkampfe. Die kleinen Panathenäen wurden jährlich begangen, waren ein kürzeres und einfacheres Fest, ohne den Peplos, im Uebrigen gleichartig mit den grossen. - Die Römer bekamen den Dienst der M. von den Etruskern, und zwar aus Falerii; die Etrusker mögen über Lydien, von wo ein Theil dieser Nation eingewandert war, die griechische Athene kennen gelernt und mit einem gleichartigen einheimischen Wesen vermengt haben. Ihre M. stand in einer Dreiheit vereinigt mit Jupiter und Juno, und so wurde sie auch in den capitolinischen Tempel zu Rom übertragen. Die Römer feierten ihr die grossen Quinquatrus im März, das kleinere Fest desselben Namens im Juni. - Von antiken Kunstdarstellungen der M. haben wir noch zahlreiche Ueberreste, aber werthvoller und ihrem Ideale entsprechender, als alles Erhaltene, waren ihre verschwundenen Bildnisse von Phidias, auf der Burg zu Athen. Unsere Abbildungen zeigen: M. als Büste mit kriegerischem Ausdruck; M. in voller Rüstung mit alterthümlich zierlicher Anordnung des dorischen Gewandes; M., mit dem kleinen Erichthonius; M.'s Geburt; M. Polias, von einem Candelaberfusse.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 335-337.
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