Das Oratorium

[305] Das Oratorium ist ein geistliches, durchaus lyrisches, mit Musik aufzuführendes Drama zum gottesdienstlichen Gebrauch bei hohen Feiertagen, welches zur Absicht hat, die Herzen der Zuhörer mit Empfindungen für irgend einen erhabenen Gegenstand der Religion zu durchdringen. Der Stoff dazu ist irgend eine biblische Handlung oder sonst eine geistliche Geschichte; die Musik muß ohne gesuchte Zierlichkeit, durchdringend und erhaben sein. – Den Ursprung der Oratorien setzt man in die Zeiten der Kreuzzüge, wo ganze Haufen christlicher Pilgrime Gesänge fertigten, worin sie das Leben und den Tod des Erlösers, das jüngste Gericht, wohl auch Wunderwerke der Heiligen und ihre Martern besangen. Mit dem Pilgrimsstabe, Huth und Mantel versehen, sangen sie diese Geschichten auf Straßen und öffentlichen Plätzen ab. Ihre jetzige Form erhielten die Oratorien in Italien, wo sie zuerst der heilige Philipp von Neri (geb. zu Florenz 1515, gest. zu Rom 1595), der Stifter des Oratorien-Ordens, um d. J. 1540 eingeführt haben soll, und wo sie anfangs unter dem Titel laudi spirituali gedruckt wurden. Den Namen Oratorium erhielten sie erst in der Mitte des 17. [305] Jahrhunderts, wahrscheinlich von der vorgedachten Gesellschaft. Anfangs waren sie auch mehr Erzählung als Drama, indem eine besondre Person den Zuschauern die Geschichte erst zuvor hersagte, und dann nur wenige Arien Statt fanden. Diese äußerst langweilige Art wurde zuerst von Spagna (1656) abgeschafft, und die Oratorien ihrer jetzigen Form noch näher gebracht, so daß gegenwärtig zur Fastenzeit in Italien nichts gewöhnlicher ist als diese Oratorien, worunter sich unter den Neuern die von Metastasio besonders auszeichnen. – Die Musik selbst ist in den neuern Oratorien zu sehropernmäßig, und hat sich von der Simplicität und dem andächtigen Ausdruck sehr entfernt. In England wurde diese Dichtungsart zuerst von Händel eingeführt, ungeachtet derselbe immer sehr schlechte Dichter dazu bekam. In Frankreich hat man lange nichts von dieser Gattung wissen wollen; auch paßt nach Ronsseauʼs Versicherung die Französische Musik so wenig für das Drama, daß man ihre Unzulänglichkeit schon genug beim Theater, geschweige denn auch noch in der Kirche, wahrnehme: in den neuesten Zeiten sind aber denn doch dergleichen im Concert fpirituel eingeführt worden. In Deutschland sind die bekanntesten der Tod Abels, Abraham auf Moria (von Niemeyer, in Musik gesetzt von Rolle); der Tod Jesu von Ramler und Graun durfte wohl eher eine Passions-Cantate zu nennen sein.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 305-306.
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