Die Harmonie

[173] Die Harmonie hat in der neuern Musik mehrere Bedentungen, und zwar 1) eine regelmäßige Verbindung oder Zusammensetzung verschiedener Töne, welche zu gleicher Zeit hervorgebracht oder angeschlagen werden, und gewöhnlich zusammen ein Accord heißen: so sagt man z. B. daß zu einer Baßnote diese oder jene Harmonie gehöre, d. h. die obern oder höhern Töne [173] müssen zugleich mit dem Baß angeschlagen werden man sagt ferner enge Harmonie (wenn alle dazu gehörigen Töne nahe an einander liegen), oder zerstreute Harmonie (wenn die Intervalle eines Accords weit, z. B. eine Octave oder noch weiter, von einander entfernt sind). 2) bedeutet es auch das Wohlklingen, das gute Consoniren oder Zusammenfließen mehrerer Töne in einen, im Gegensatz des Dissonirens gewisser Accorde oder Intervalle. 3) aber ist es auch überhaupt die Folge und Verbindung mehrerer einzelner Accorde zu einem Ganzen; man sagt z. B. von einem Tonstück, es sei in der Harmonie gut oder rein, wenn die Regeln von der Zusammensetzung und Folge der Accorde darin gut beobachtet sind. Und in dieser hauptsächlichen Bedeutung wird die Harmonie (als gute Zusammenstimmung aller Stimmen des Tonstücks) der Melodie (d. h. einer wohlgeordneten Folge einzelner Töne) entgegen gesetzt. Daher sagt man denn auch: »die Melodie eines Tonstücks ist gut, aber die Harmonie könnte besser sein« – oder von einem Tonsetzer: »er versteht die Harmonie«, wenn er einen vollstimmigen Gesang in Rücksicht auf gute Vereinigung der Stimmen, der guten Fortschreitung der Accorde etc. richtig zu setzen weiß. In dieser dritten Bedeutung hat denn nun die Harmonie wegen ihres mächtigen Unterschieds von der Melodie viel und große Streitigkeiten verursacht, indem ein Theil der Neuern, und an ihrer Spitze Rameau (der auch zuerst die Wissenschaft der Harmonie methodisch vorgetragen), jene als das einzige Fundament der ganzen Tonkunst angiebt, und ohne sie der Musik allen Werth abspricht; andere hingegen, unter denen Rousseau den ersten Platz einnimmt, behaupten, die Harmonie sei zur Tonkunst gar nicht nothwendig, indem die Alten vom gleichzeitigen Anschlage mehrerer Intervallen nichts gewußt, sondern bloß den Einklang in Vereinigung mit den Octaven gekannt, und dennoch Gesänge von großer Kraft und Wirkung gehabt hätten etc. – So viel ist nun wohl nicht zu läugnen, daß durch Einführung der Harmonie die Tonkunst unendlich gewonnen hat: und wenn man, nach dem Urtheil eines neuern Aesthetikers, die Melodie als Organ, seine Empfindungen zu äußern, und die Harmonie als Mittel, diesem Organ mehr [174] Kraft und Wirkung zu geben, betrachtet; so wäre auch ein großer Theil der streitigen Fragen, ob nehmlich die Harmonie aus der Melodie oder diese aus jener entspringe, ob der Harmonie oder der Melodie der Vorzug gebühre etc. bald gehoben. Auch hat die Behauptung ihre Richtigkeit: Melodie ist Geschenk der Natur, Harmonie wird durch Studium erlangt. – Uebrigens setzt man das Aufkommen des vielstimmigen Gesangs in das zwölfte Jahrhundert.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 2. Amsterdam 1809, S. 173-175.
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