Jean Jacques Rousseau

[343] Jean Jacques Rousseau, wurde zu Genf am 28. Juni 1712 geboren. Sein Vater war ein Uhrmacher, der aber außer seiner Kunst auch noch sich und seinen jungen Sohn mit Lectüre beschäftigte, wozu eine nicht unbeträchtliche Bibliothek im Hause reichlichen Stoff darbot. Rousseau, der von der frühesten Jugend an ein feuriges Temperament verrieth, und mehrere Proben von Unbiegsamkeit und Unerschütterlichkeit des Charakters ablegte, bezeigte keinen großen Wohlgefallen an dem Gewerbe seines Vaters, sondern verließ, um den Folgen eines gemachten Jugendfehlers zu entgehen, heimlich das väterliche Haus, da er 16 Jahr alt war, und ging nach Savoyen. Unerfahrenheit und Mangel an Lebensbedürfnissen brachten ihn in die drückendste Verlegenheit. Er vertauschte die reformirte Religion mit der katholischen, wollte in Turin sein Glück versuchen, brachte es aber nicht höher als bis auf eine Bedientenstelle, und kehrte deßwegen zu einer großmüthigen Gönnerin, zu der Frau von Warens, die sich seiner auf Empfehlung eines Geistlichen angenommen hatte, zurück. Bei dieser blieb er, nachdem er sie auf einer Reise nach Paris begleitet und mehrere Städte Frankreichs besucht hatte, bis 1741 in Chambery; nachher ging er wieder nach Paris, [343] und 1743 nahm er eine Stelle bei dem Französischen Gesandten in Venedig an. Er blieb jedoch auch dort nicht lange ging nach Paris zurück, nährte sich dürftig von der Musik, und nahm nachher (1754) in Genf öffentlich wieder die reformirte Religion an. Unterdessen hatte sich seine schriftstellerische Laufbahn eröffnet; und mit ihr begann zugleich ein Gewebe von Mühseligkeiten und Verfolgungen, woraus sich der unglückliche Rousseau kaum einige Monathe vor seinem Tode retten konnte. Die Cabalen unwissender aber mächtiger Pfaffen, die Eifersucht neidischer und ehrgeitziger Gelehrten und die zaghafte Furchtsamkeit der Regierungen in Frankreich und der Schweiz erhielten ihn immer unstät und flüchtig: nirgends konnte er einen festen Wohnort finden. Selbst in England, wohin er 1766 ging, war sein Bleiben von keiner langen Dauer. Er veruneinigte sich mit dem Philosophen Hume, und kehrte deßwegen im folgenden Jahre zurück nach Frankreich, wo er sehr dürftig lebte. Erst in dem letzten Jahre seines Lebens genoß er einige frohe Monathe auf einem Landgute unweit Paris; aber der Tod unterbrach diese kurzen Freuden: Rousseau starb am 2. Juli 1778 bald nach Voltaire, mit dem er Verdrüßlichkeiten gehabt hatte, weil – wie er sich ausdrückte – Voltaireʼs theatralische Stücke seine Republik verdürben. Die Sage, daß sich Rousseau selbst entleibt habe, ist nicht mit historischer Gewißheit begründet. – Man wundert sich, warum ein Mann, auf den Frankreich und Genf stolz zu sein Ursache hatten, und dessen Schriften bei den gebildeten Ständen aller Nationen eifrige Bewunderer fanden, doch gleichwohl aus einem Ort in den andern verwiesen, als ein der Religion und den Staaten gefährlicher Mann verschrien, und von einigen sogar als aberwitziger Schwärmer bemitleidet werden konnte. Aber die Ursache dieses räthselhaften Widerspruchs liegt sowohl in dem persönlichen Charakter Rousseauʼs, als auch in dem Gehalte seiner Schriften. Rousseau, der als umherwandernder junger Mann ohne feste Bestimmung nie mit dem Glück in dem besten Vernehmen gestanden hatte, durch glänzende Vorspiegelungen gutmüthiger oder boshafter Menschen unzählige Mahl getäuscht worden war, immer das Gefühl seines innern Werths den eigensinnigen Launen ehrgeitziger Gönner oder falscher Freunde aufopfern mußte, und[344] die Sittenverderbniß seines Zeitalters aus fürchterlichen Erfahrungen kennen gelernt hatte, war in gewissen Anfällen von trüben Launen finsterer Menschenfeind dem nichts in der Welt an der rechten Stelle stand. Er wünschte die Menschen nach dem Naturstande zurückzuführen, und bewies deßwegen die Unzulässigkeit vieler jetzt bestehenden Einrichtungen. Daher seine feindselige Schilderung des Menschen im gesellschaftlichen Zustande, seine Behauptung, daß Wissenschaften und Künste der Menschheit von jeher mehr geschadet als genutzt hätten, und die Vertheidigung einer Menge andrer eben so paradoxen Sätze in mehreren seiner Schriften; daher endlich die Vorliebe für die Kräuterkunde, die in spätern Jahren bei ihm erwachte, weil ihn alle lebendige Wesen beinahe anekelten. Da Rousseau nicht bloß ein kalter philosophischer Schriftsteller war, sondern allemahl aus inniger Ueberzeugung sprach, und den Leser mit einer gutmüthigen Herzlichkeit für sein System zu gewinnen wußte; da seine Schreibart, durch das Feuer seiner Einbildungskraft belebt, immer edel und anmuthig war, und durch kein Haschen nach Witz oder betrüglichem Schimmer entstellt wurde: so fanden seine Schriften überall Beifall, und wurden selbst in Frankreich, ungeachtet der strengsten Verbote dagegen, häufig gelesen. Die neue Heloise, ein Roman, der bei einem höchst einfachen Plane meisterhaft ausgeführt ist, und denkende Leser vom Anfange bis zum Ende in Theilnahme erhält, und der Emil, ein System der Erziehung, das zur Verbesserung dieser wichtigen Angelegenheit der Menschheit in neuern Zeiten so viel beigetragen hat, interessirten und interessiren noch – nebst den Geständnissen über sich selbst, worin Rousseau die Schicksale seines Lebens und seinen Charakter mit aller Freimüthigkeit schildert – die meisten Classen von Lesern. Durch einige Abhandlungen über die Musik brachte Rousseau, der ein enthusiastischer Verehrer dieser Kunst war, und in den Zeiten der Dürftigkeit von Notenabschreiben lebte, die ganze Zunft der Französischen Musiker gegen sich auf, weil er den Franzosen die Kenntniß der wahren Musik absprach, und ihnen rieth, den Italiänischen Geschmack anzunehmen. Keine seiner Schriften zogen ihm jedoch mehr Verdruß zu und wurden so oft bis auf den heutigen Tag gemißbraucht als die politischen, besonders die Abhandlungen [345] über den bürgerlichen Vertrag und über die Ungleichheit unter den Menschen. Erstere wurde anfänglich der Katechismus der Französischen Revolution und als ein neues Evangelium gleichsam angebetet. Unter allen Rousseauʼschen Schriften war gewiß diese am seltensten vorher gelesen und noch seltner verstanden worden. Auf einmahl glaubte man in ihr den sichersten Wegweiser durch das Labyrinth der Revolution gefunden, und die Grundlage zu einem neuen, unwandelharen Staatsgebäude entdeckt zu haben. Rousseauʼs Andenken wurde auf alle mögliche Art geehrt. Am 25. Sept. 1791 veranstaltete man zu Montmoreney, wo sich Rousseau einst aufgehalten hatte, deßwegen ein glänzondes ländliches Fest. Seine hinterlaßne Witwe, Therese Levasscur, die ehedem sein Hauswesen besorgt hatte, die er aber, ungeachtet ihre Denkungsart von der seinigen ganz verschieden war, aus Dankbarkeit im Jahre 1769 heirathete, erhielt auf Barrereʼs Antrag am 21. Dez. 1799 von der National-Ver sammlung einen jährlichen Gnadengehalt von 1200 Livres. Am 11. Oct. 1794 wurden seine Gebeine feierlich im Pantheon zu Paris beigesetzt. Auf jeden Fall ist es wahrscheinlich, daß, wenn Voltaire und Rousseau noch lebten, letzterer gewiß zufriedner mit der Revolution sein würde, als ersterer: aber dessen ungeachtet könnte auch er das Schicksal der Gemäßigten gehabt haben und verhaßt worden sein, wenn sein fühlendes und wohlwollendes Herz Grausamkeiten gemißbilligt, Toleranz empfohlen und die Franzosen zur Ausübung häuslicher Tugenden, zur Nüchternheit und zu größerer Sorge für die bessere Erziehung ihrer Kinder ermuntert hätte.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 343-346.
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