Reichsvicarien

[146] Reichsvicarien oder Reichsverweser sind zwei Deutsche Churfürsten, welche bei Erledigung des kaiserlichen Throns die Stelle des Kaisers vertreten und dessen Rechte ausüben. Eine solche Erledigung kann durch Tod, Abdankung, Absetzung, Minderjährigkeit und langwierige Abwesenheit des Reichsoberhaupts Statt finden. – Die aus dem Mittelalter herrührende Würde des Reichsvicariats führen der Churfürst von der Pfalz und der Churfürst von Sachsen; allein die Zeit ihres Entstehens ist eben so sehr in Dunkel gehüllt, als die Ursache, warum unter so vielen Deutschen Reichsfürsten gerade diesen beiden jene Auszeichnung zu Theil ward. Denn einige Geschichtsforscher sagen, daß sie wegen ihrer Macht, als Besitzer großer Länder, Andere behaupten, daß sie wegen ihrer Erzämter, als Erzmarschälle und Erztruchsesse, mit dem Vicariat versehen worden wären, weil die goldne Bulle zugleich mit dem Reichsverweser-Amte auch dieser Erzämter erwähnt; noch Andere legen ihnen das Amt darum bei, weil sie beide Pfalzgrafen waren, und zwar der Erste in dem nördlichen und östlichen Deutschland, der Andere in dem südlichen und westlichen. Wirklich waren auch beide Pfalzgrafen im Mittelalter sehr angesehen, und sprachen in Abwesenheit des Kaisers Recht; man käme daher vielleicht der Wahrheit am nächsten, wun man die dritte Meinung mit der ersten verbände. Schon [146] im Jahre 1398 finden wir, daß in einem Reichsschlusse der Pfalzgraf am Rhein, oder der Churfurst von der Pfalz, im Vicariat bestätigt wurde; indessen treffen wir auch auf frühere, obgleich unsichere, Spuren dieser ihm verliehenen Würde. Sachsen hingegen wurde erst durch die goldne Bulle (ein Reichs-Grundgesetz Carls IV. von 1356) als Vicar anerkannt; die wenigen frühern Spuren der Sächsischen Reichsverweserschaft, die man hie und da zu entdecken glaubt, sind völlig ungewiß und schwankend. Gedachtes Reichs-Grundgesetz ordnete nun an, daß der Churfurst von Sachsen in den Landen des Sächsischen Rechts, der Pfälzische aber in den Rheingegenden, in Schwaben und in den Landen des Fränkischen (oder, welches einerlei ist, des Schwäbischen) Rechts das Vicariat ausüben solle. Man versteht nehmlich unter den erstern die Länder, worin die uralten Sächsischen Gesetze und Gewohnheiten, mit neuern Herkommen und Entscheidungen vermischt, galten, unter den letztern die, wo man auf die Trümmer der alten Fränkischen und anderer Deutschen Gesetze ein neues, jedoch von dem Sächsischen verschiedenes, Gewohnheitsrecht gebaut hatte. Da nun das Sächsische Recht, namentlich der Sachsenspiegel, in dem jetzt so genannten Westphälischen, Niedersächsischen und Obersächsischen Kreise, auch in der Lausitz, Böhmen, Schlesien und Mähren herrschend geworden war; so hätten auch alle diese Lande zum Sächsischen Vicariat, die übrigen zum Pfälzischen gehören müssen, wenn nicht gleich anfangs aus einem dreifachen Grunde Gränzirrungen entstanden wären. Erstlich konnte man bei der Ungewißheit aller Rechte im Mittelalter selbst nicht genau bestimmen, in wie weit die Sächsischen Gewohnheitsrechte (den auf publicirte Gesetze gründeten sie sich fast gar nicht) geltend waren; zweitens hatte die goldne Bulle nicht angegeben, was zu den Landen Sächsischen Rechts gehöre; drittens, so suchte auch der Churfurst von der Pfalz, als Reichsverweser am Rheine, sein Amt in dem größten Theile Westphalens geltend zu machen, und jener Zwist dauerte sowohl im letzt genannten Lande als auch in Franken bis 1750 fort, wo beide Reichsvicarien eine Convention abschlossen, welche allen Streit beilegte. In derselben bekam Sachsen in dem Fränkischen Kreise bloß Henneberg, in dem Westphälischen [147] aber Osnabrück, Paderborn, Corvey, Oldenburg und Delmenhorst, Hoya, Diepholz, Pyrmont, Lippe Schaumburg und Rittberg, so wie die am rechten Ufer der Weser belegenen Lande. Das Sächsische Vicariat erstreckt sich also jetzt über jene Stücke von Westphalen und Franken, über ganz Ober- und Niedersachsen und die Lausitz, und würde noch Böhmen, Schlesien und Mähren begreifen, wenn sich diese Lande nicht davon eximirt hätten, da sie unter völlig souverainen Herren stehen. Alle übrigen Theile Deutschlands gehören zu dem Pfälzischen oder Rheinischen Vicariat, von welchem sich jedoch der Oestreichische und Burgundische Kreis nebst Churmainz ausgenommen haben. – Seit dem Westphälischen Frieden 1648 entstanden über das Pfälzische Vicariat große und langwierige Irrungen mit Bayern. Denn da Pfalz in demselben, zur Strefe für die im dreißigjährigen Kriege bewiesene Untreue, seine fünfte Stelle unter den Churfürsten nebst dem Erztruchses-Amte verlor, und nur die letzte oder achte Chur nebst dem Erzschatzmeister-Amt erhielt; so eignete sich Bayern bei der nächsten Thronerledigung, 1657, nach Kaiser Ferdinands III. Tode das Vicariat zu: 1711 aber, nach Josephs I. Absterben, führte Pfalz dasselbe wieder, weil der Churfürst von Bayern geächtet war. Nach Carls VI. Ableben 1740 führten es, vermöge eines 1724 geschlossenen Eractats, beide Häuser gemeinschaftlich: als aber Carl VII. mit Tode abging (1745), verstanden sie sich dahin, daß sie es abwechselnd verwalten wollten; und Bayern machte den Anfang. Die Erlöschung des Bayerschen Mannsstammes, welcher 1777 den 30 Decembr. ausstarb, machte auf einmahl allem fernern Streite ein Ende, indem Pfalz das Churfürstenthum Bayern und mit diesem das Vicariat erbte. Doch ist dessen Sitz nun nach München, als der Residenz des Churfürsten von Pfalzbayern, verlegt. Zum Schlusse dieser historischen Digression, die wohl schwerlich kürzer ausfallen konnte, wenn uns nicht der Vorwurf der Oberflächlichkeit treffen sollte, erwähnen wir noch, daß Savoyen bis in die neuesten Zeiten den Titel Vicarins durch Italien führte; allein diese Benennung war nichts als ein leerer Titel, der daher entsprungen ist, daß die Deutschen Kaiser im Mittelalter einige mächtige Fürsten Oberitaliens zu Verwaltern ihrer dortigen Gerechtsame während ihrer Abwesenheit einzusetzen pflegten. In Savoyen hatte sich der Titel [148] erhalten, in den übrigen Staaten der Lombardei aber verloren. – Noch ist über die Geschäfte und Rechte der Vicarien einiges zu erwähnen. Gleich nach des Kaisers Tode machen sie durch Patente den Antritt ihres Amts bekannt, und errichten an die Stelle des Reichs-Hofraths (s. diesen Art.), welcher mit dem Ableben des Reichs-Oberhauptes geschlossen wird, jeder ein Vicariatsgericht, das in Sachsen Vicariatscommission, in Pfalzbayern Vicariats-Hofgericht heißt. Diese Gerichte erkennen über alle Gegenstände, die zu der Competenz des Reichs-Hofraths gehören; doch werden Sachen, die bei dem Reichs-Hofrathe schon anhängig sind, nur selten, d. h. in dringenden Fällen oder auf Ansuchen der Parteien und Supplicanten, vor die Vicariatsgerichte gezogen. Als Stellvertreter des Kaisers exerciren die Vicarien alle Rechte dieses Fürsten; sie dürfen Krieg, Frieden und Bündnisse beschließen, auch kaiserliche Reservatrechte (wovon s. Reichs-Hofrath) vor ihren Gerichten ausüben, ob ihnen gleich einige derselben streitig gemacht werden, und namentlich die Belehnung mit Thronenlehnen (d. h. solchen, die von dem Throne des Kaisers empfangen werden müssen) ihm ausdrücklich untersagt ist. Das Recht, Privilegien, Standeserhöhungen und Würden (z. B. eins der Unter-Pfalzgrafen) zu ertheilen, vornehmlich die Verleihung des Reichsadels, werden von den Vicarien häufig ausgeübt. Auch haben sie die Befugniß, Vicariatsmünzen zu schlagen, und führen besondere Vicariatswapen, deren sich selbst das Reichs-Kammergericht zum Siegel bedienen muß. Nach der von dem neugewählten Kaiser geschehenen Beschwörung der Wahlcapitulation hört die Gewalt der Reichsvicariate auf; jedoch ist der Kaiser durch eben diese Capitulation verbunden, ihre Handlungen für recht und genehm zu halten, in so fern sie nicht der Deutschen Staatsverfassung zuwider laufen.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 146-149.
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