Reim

[150] Reim, der gleiche Laut der letzten Sylben in zwei Versen. Man nennt den Reim männlich, wenn bloß die letzte Sylbe in zwei Versen gleichlautend ist, weiblich hingegen, wenn die beiden letzten Sylben einen gleichen Laut haben. Wir führen, um dem Leser Beispiele von beiden Arten der Reime zu geben, die erste Stanze von Matthisons bekanntem Grabliede an:

Auch des Edlen schlummernde Gebeine

Hüllt das Dunkel der Vergessen heit;

Moos bedeckt die Schrift am Leichen steine,

Und sein Name stirbt im Lauf der Zeit.

Griechen und Römer gebrauchten den Reim nicht, vermieden ihn im Gegentheil als einen Uebelstand; und wenn er sich bei ihnen findet, so ist er zufällig und dem Dichter ohne sein Vorwissen enschlüpft. In dem vierten Jahrhundert nach Christi Geburt führten zwei Kirchenväter, nehmlich der heil. Ambrosius und Prudentius, den Reim in die Lateinische christliche Poesie ein Die Barden der Abendländer reimten eben so wenig als die ältesten Morgenländer. – So viel mir wissen, haben im Orient die Araber den Reim, den auch die Neger in Afrika kennen sollen, zuerst gebraucht. Wahrscheinlich nahmen ihn von den Arabern, als diese in Spanien und Languedoc einheimisch waren, die Troubadours oder Provenzalischen Dichter an. Zwei Umstände [150] begünstigten seine Aufnahme. Die meisten durch die Völkerwanderung entstandenen neuen Sprachen haben erstlich entweder gar keinen merkbaren Unterschied, oder kein hinlängliches Verhältniß und Gleichgewicht zwischen langen und kurzen Sylben, nach welchen Griechen und Römer ihre Metra schufen; die einsylbigen Wörter sind meistens schwer accentuirt. Zweitens besitzen diese Sprachen eine zahllose Menge gleichlautender Endungen, welche den Reim, auch wo er unabsichtlich wäre, fast unvermeidlich machen würden, wie in der Italiänischen und Französischen Sprache. Die Englische, die wenigstens viele Jamben und weniger Gleichlaut hat, konnte daher den Reim auch eher entbehren. Die Deutsche Dichtkunst haben Bodmer und Klopstock von dem Zwange des letztern befreit. Unsere Sprache hat wenig gleichlautende Endsylben, dagegen alle Füße der Griechischen und Lateinischen. In dieser und jener wird die Länge und Kürze der Sylben noch durch den Anfangsbuchstaben der folgenden Sylbe bestimmt; allein diese Regel durfte man in der mit Consonanten so reich ausgestatteten Sprache unsers Vaterlandes nicht gelten lassen, weil dann fast alle Sylben lang geworden wären. Auch unsre einsylbigen Worte wären, nach Griechischem und Lateinischem Maße gemessen, größten Theils lang. Die Schöpfer der Deutschen reimlosen Dichtkunst, Bodmer, Klopstock, Göthe, Voß, haben daher die Freiheit eingeführt, die einsylbigen Worte ohne Unterschied lang und kurz zu gebrauchen. – Der Reim erleichtert das Behalten der Verse und ergötzt das ungebildete Ohr. Nur hohe Kunst kann ihn durch Wohlklang und Takt ersetzen; und nur ein seines Ohr kann diesen vollen Ersatz, die Musik des Redefalls, die mehr als Reim ist, empfinden. Zu gewissen kürzern Versarten, zu Sinngedichten u. s. w. scheint er aber doch vorzüglich geeignet zu sein; und hier mag er auch seine Rechte behaupten. Kann man übrigens nicht läugnen, daß der Reim eine drückende Fessel für das Dichtergenie abgebe, so muß man doch auch eingestehen, daß er nicht selten die kühnsten Gedankenverbindungen veranlasse; aber diese Passivität des Dichters muß die Kunst verbergen. Der gemeine Reimer paart Unsinn in gleichlautenden Worten, und bei ihm ist gereimt oft so viel als ungereimt.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 150-152.
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