Apperceptionspsychologie

[63] Apperceptionspsychologie ist jene von WUNDT begründete psychologische Richtung, welche, im Gegensatze zur reinen Associationspsychologie (s. d.) eine den Vorstellungsverlauf hemmende, dirigierende, ordnende, gliedernde, vereinheitlichende Tätigkeit der Apperception (s. d.) in umfassender Weise berücksichtigt. Die Association allein kann das Auftreten herrschender Elemente in den Vorstellungsverbindungen nicht erklären. Die eigentümliche Form der associativen Verbindung selbst ist schon durch eine Tätigkeit bestimmt, die gewisse Vorstellungen vor anderen bevorzugt. Diese innere Willenshandlung ist eben die mit der Aufmerksamkeit (s. d.) innig verknüpfte Apperception die uns die höheren geistigen Processe (Urteilen u.s.w.) begreiflich macht (Log. I2, S. 30 f.; Grdz. d. ph. Psych. II4, 454; Vorles.2, S. 319; Phil. Stud. VII, 329 ff., 87 f.).

Gegner der Apperceptionspychologie sind vor allem die Associationspsychologen (ZIEHEN u. a.). E. VON HARTMANN erklärt: »Die Associationspsychologie weist die Apperceptionspsychologie Wundts und seiner Schule mit Recht zurück; sie selbst aber vermag weder die Fülle der Tatsachen zu erklären, noch sich des Hinabgleitens in Materialismus zu erwehren« (Mod. Psych. S. 172). Die Apperception muß in das Unbewußte (s. d.) verlegt werden (ib.). »Jeder Versuch, vermittelst des Bewußtseinsinhalts durch Heraushebung besonderer herrschender Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen die Associationspsychologie zur Apperceptionspsychologie zu erheben (Wundt), scheitert daran, daß die herrschenden Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen doch auch wieder den Associationsgesetzen unterworfen sind und nichts weiter leisten, wie jede Vorstellung, die einen Associationsvorgang auslöst« (l.c. S. 425). MÜNSTERBERG versteht unter »Apperceptionstheorie« »diejenige Vorstellung vom Zusammenhange des Psychischen und Physischen, welche zwar einen durchgängigen Parallelismus für die elementaren Empfindungen kennt, die Bewertungen, die Entscheidungen, die Beziehungen und die Bewußtseinsformen dagegen rein psychologisch ohne begleitende physiologische Vorgänge auffaßt« (Pr. d. Psych. S. 452). Diese Theorie ist als »Arbeitshypothese«[63] »unfruchtbar«, bedeutet aber »die gesunde conservative Gegenbewegung gegen die oberflächliche Überschätzung der Associationstheorie« (l.c. S. 455 f.). Beiden »sensorischen« Theorien stellt MÜNSTERBERG seine »Actionstheorie« entgegen, welche »von der Associationstheorie die Consequenz der psychophysischen Anschauung erben soll, von der Apperceptionstheorie aber die Berücksichtigung der activen Seite des geistigen Lebens, der Aufmerksamkeits- und Hemmungserscheinungen herübernimmt« (l.c. S. 527). Sie betrachtet die »Bewegungsantriebe«, die motorischen Gehirnfunctionen selbst als Bestandteile des psychophysischen Processes (l.c. S. 528). Die Actionstheorie verlangt, »daß jeder Bewußtseinsinhalt Begleiterscheinung eines nicht nur sensorischen, sondern sensorisch-motorischen Vorgangs ist und somit von den vorhandenen Dispositionen zur Handlung ebensosehr abhängt wie von peripheren und associativen Zuführungen« (l.c. S. 549). Sie besagt allgemein, »daß jede Empfindung und somit jedes Element des Bewußtseinsinhaltes dem Übergang von Erregung zu Entladung im Rindengebiet zugeordnet ist, und zwar derart, daß die Qualität der Empfindung von der räumlichen Lage der Erregungsbahn, die Intensität der Empfindung von der Stärke der Erregung, die Wertnuance der Empfindung von der räumlichen Lage der Entladungsbahn und die Lebhaftigkeit der Empfindung von der Stärke der Entladung abhängt« (ib.).

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 63-64.
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