Karl XII.

[388] Über Karl XII. behalte ich mir eine besondere Untersuchung vor und will hier nur einige Andeutungen geben, in welcher Richtung sie sich zu bewegen hat. Karl XII. gehört strategisch angesehen noch zur Epoche des 30jährigen Krieges, insofern die Heere, die er führt, sehr klein sind mit starkem Überwiegen der Kavallerie, diese Heere sich daher sehr frei über sehr weite Räume hin bewegen und die Motive der Bewegungen mehr auf politischen als auf militärischen Erwägungen beruhen. 1707, als Karl Sachsen[388] verließ und auf der Höhe seiner Macht stand, zählte sein Heer 16200 Mann Infanterie und 20700 Reiter (eingeschlossen die Dragoner). Bei Poltawa hatte er im ganzen 16500 Mann Streitbare, von denen 12500 in die Schlacht geführt wurden. Anders als im 30jährigen Kriege standen dem König statt etwa gleichwertiger, nur sehr minderwertige, aber an Zahl sehr überlegene Truppen gegenüber. Die russische Armee war erst in der Bildung begriffen und krankte an dem Gegensatz zwischen der russischen Mannschaft und den wesentlich aus dem Ausland bezogenen Offizieren. Die polnische Kronsarmee war ein undiszipliniertes, mittelalterliches Aufgebot. Von den Sachsen berichtete ihr General Schulenburg selber an seinen König, daß sie außer sich gerieten, wenn sie die Schweden nur sähen432. Nimmt man diesen Qualitäts-Unterschied in den Truppen zusammen mit der Weiträumigkeit des Kriegstheaters, den Anbau-, Wege- und Klima-Verhältnissen, so sieht man, daß hier ganz andere Maßstäbe gelten müssen, als sei es im 30jährigen Kriege, sei es in den Kriegen Ludwigs XIV. oder Friedrichs des Großen. Der Sproß des Hauses Wittelsbach auf dem nordischen Thron ist sicherlich nicht nur einer der größten Helden der Weltgeschichte, sondern auch ein großer General, der seine Truppen in der Schlacht richtig führte, sie mit seinem Geiste und unbedingtem Vertrauen erfüllte. Aber um ihn als Strategien in eine Reihe mit den Gustav Adolf, Friedrich, Napoleon zu stellen, fehlt etwas, was mit den Worten Starrköpfigkeit oder Abenteuerer nicht abgetan ist. Es kommt darauf an, die Wechselwirkung zwischen der objektiven Lage und dem Charakter des Handelnden aufzufinden und festzustellen. Sowohl jener gekennzeichnende Unterschied in den gegnerischen Armeen kommt dabei in Betracht wie die politische Lage des schwedischen Staates. Diese Großmacht, die um die ganze Ostsee herumgriff und selbst an der Nordsee eine große Besitzung hatte, hatte doch so wenig eine bestimmte politische Direktion, daß der greise Reichskanzler Oxenstierna (1702) seinem König raten konnte, er solle mit August von Polen-Sachsen Frieden schließen und könne dann seine Heeresmacht an fremde Potentaten vermieten, was ihm zu hohem Ruhm gereichen werde.[389]

Damit hatte ja auch das große schweizerische Kriegertum geendigt.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 4, S. 388-390.
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