Nebukadnezar und Ägypten. Der Fall Jerusalems

[175] Die äußere Politik Nebukadnezars wird, abgesehen von der Rücksicht auf Medien, durchaus beherrscht von dem Gegensatz gegen Ägypten. Die Pharaonen konnten den Verlust der reichen und für den Handel Ägyptens so wichtigen syrischen Provinzen nicht verschmerzen und versuchten wieder und wieder, sie dem babylonischen Reich zu entreißen, zunächst indem sie wie die Äthiopen zur Assyrerzeit die Vasallen zu neuen Empörungen verlockten. Im J. 597 verweigerte König Jojaqim von Juda den Tribut. Aber die ägyptische Hilfe, auf die er baute, kam nicht, dagegen wohl ein chaldäisches Heer. Jerusalem wurde belagert, des inzwischen verstorbenen Jojaqim Sohn Jojakin oder Jekonjah mußte kapitulieren und wurde mit den Schätzen des Palastes und des Tempels und dem ganzen Adel der Bevölkerung nach Babylonien deportiert. »Ganz Jerusalem, alle Fürsten (vgl. Jerem. 29, 2), alle Krieger, 10000 an der Zahl, alle Zimmerleute und Schlosser wurden fortgeführt, nur das niedere Landvolk blieb zurück.« Zum Herrscher über das also seiner Wehrkraft und seiner besten Männer beraubte Volk wurde Jojaqims Bruder Mattanjah eingesetzt, der den Namen Ṣidqijah (Zedekia, 596-586) annahm. In die soziale Umwälzung, die dadurch herbeigeführt wurde, geben die Schriften des zurückgebliebenen Jeremia und vor allem die des mit fortgeführten Priesters Ezechiel einen Einblick. Die Weggeführten hatten ihren Grundbesitz bei der plötzlichen Entwertung aller Güter um ein geringes losschlagen müssen und sahen deshalb mit doppelter Erbitterung auf den plötzlich zum Herrn gewordenen Pöbel herab. Sie betrachteten sich als das eigentliche Israel, Jojakin als den allein legitimen König (daher auch Reg. II 25, 27ff.); sie erwarteten bestimmt, daß Jahwe sie bald in ihre Heimat [175] zurückführen werde (vgl. Jerem. 29). Um so mehr konnte Nebukadnezar annehmen, daß die jetzt zum Besitz gelangte Bevölkerung ihm treu ergeben sein werde. Er hatte sich verrechnet; das Vertrauen auf Jahwe, auf den auch diesmal wieder dem Verderben entgangenen Tempel erwies sich stärker als alle vernünftige Überlegung (vgl. Jerem. 27. 28).

Im J. 594 starb Necho. Sein Sohn Psammetich II. (593-587, Herod. Ψάμμις, Man. Ψάμμουϑις) ist, wie ein demotisches Schriftstück aus der Perserzeit lehrt312, im J. 590 nach Syrien gezogen, hat aber, soweit wir wissen, hauptsächlich in Äthiopien gekämpft (o. S. 147). Kaum hatte dagegen der nächste Herrscher, Apries (Ûḥabrê', Ἀπρίης, Man. Οὔαφρις, ערפח), im J. 588 den Thron bestiegen, als er die syrischen Kriege wieder aufnahm. »Er zog gegen Sidon zu Felde und lieferte den Tyriern eine Seeschlacht«, berichtet Herodot (II 161). Aus den hebräischen Angaben sehen wir, daß Juda abermals den Kampf eröffnete. Der König Ṣidqijah, der nur mit halbem Herzen in den Krieg gegangen zu sein scheint, wurde von dem blinden Vertrauen seiner Großen und der Masse der Bevölkerung mit fortgerissen; vergebens erhoben die wenigen Einsichtigen, wie Jeremia, ihre warnende Stimme. So wiederholte sich denn das alte Schauspiel. Im Januar 587 erschien Nebukadnezars Heer vor Jerusalem und begann die Belagerung. Zwar mußte sie unterbrochen werden, als die Ägypter heranrückten. Doch wie es scheint, wagten diese keinen Kampf; ohne Schwertstreich gab Apries den Chaldäern Syrien preis (Jerem. 37). Jerusalem wehrte sich aufs äußerste; nur dem ihm persönlich geneigten König verdankte es Jeremia, der noch immer zur Kapitulation ermahnte, daß er nicht der Wut der Patrioten zum Opfer fiel. Endlich im Juli 586 wurde eine Bresche in die Mauer gebrochen. Der König wurde auf der Flucht gefangen und nach Ribla vor den Richterstuhl Nebukadnezars geführt. Von Schonung konnte nicht mehr die Rede sein; aber wenn man Nebukadnezars Urteil mit den Taten der Assyrer oder auch der Römer vergleicht, kann man es nur als ein mildes bezeichnen. Ṣidqijah wurde geblendet, seine Söhne und die Angesehensten [176] des Volks, einige 70 Männer, hingerichtet, die Stadt, die Mauern und vor allem der Tempel von Grund aus zerstört. Von der noch im Lande befindlichen Bevölkerung wurde der Hauptteil nach Chaldäa fortgeführt, mindestens 30000 bis 40000 Mann; nur die Überläufer und die Ärmsten, »die gar nichts besaßen«, wurden im Lande gelassen und die Weingärten und Äcker unter sie verteilt. Die alte Nation war vernichtet; daß sie als religiöse Sekte die Katastrophe überlebte, verdankte sie dem Halt, den sie an ihren Hoffnungen und an ihrem Gesetzbuch besaß313. Unter den Zurückgebliebenen war auch Jeremia, dem die Chaldäer besondere Gunst zuwandten. Das Gericht Jahwes, dessen Kommen er mit klarem Blick und mit tiefstem Schmerz erkannt hatte, hatte sich vor seinen Augen furchtbar erfüllt. Sein Schicksal war noch nicht vollendet. Als Gedaljah, den Nebukadnezar zum Statthalter über das Land eingesetzt hatte, von Ismael, einem Nachkommen des alten Königsgeschlechts, im Auftrage des 'Ammoniterkönigs erschlagen wurde, wanderten die Zurückgebliebenen aus Furcht vor der Rache der Chaldäer nach Ägypten aus und zwangen den greisen Propheten, sich ihnen anzuschließen.

An der Erhebung gegen die Chaldäer hatte auch Tyros sich beteiligt, ob gezwungen durch den Seesieg des Apries, von dem Herodot erzählt, oder ob aus anderen Erwägungen, wissen wir nicht. Jedenfalls war König Itoba'al II. entschlossen, sich der Fremdherrschaft nicht wieder zu fügen. So rückte das chaldäische Heer nach dem Falle von Jerusalem sofort gegen Tyros. Dreizehn Jahre lang, d.i. 585-573, so berichten die tyrischen Annalen, sei die Stadt von Nebukadnezar belagert worden. Es wird gegangen sein wie zur Zeit Sanheribs (o. S. 54). Die Stadt wurde vom Lande abgesperrt; doch die Felseninsel war uneinnehmbar, und das unentbehrliche Wasser gewannen die Tyrier aus Zisternen. So muß schließlich ein Kompromiß zustande gekommen sein, durch das die Stadt sich der babylonischen Oberhoheit fügte – der König Itoba'al wurde abgesetzt oder starb in demselben Jahr –, aber ihre staatliche Selbständigkeit behielt. In den folgenden Zeiten [177] innerer Wirren – unter anderem traten sieben Jahre lang (562 bis 556) Suffeten (δικασταί, vgl. Bd. II 2, 123) an die Stelle der Könige – wurden die Könige mehrfach aus Babel geholt, wo sie vermutlich als Geiseln bewahrt waren314.

Seit langem schon hatte man erwartet, daß Nebukadnezar an Ägypten Rache nehmen, den Einfällen der Pharaonen durch einen Angriffskrieg ein definitives Ende bereiten werde. Namentlich die hebräischen Propheten, beseelt von der Auffassung, daß die Chaldäer das Werkzeug Jahwes seien, mit dem er alle Völker heimsuche, und zugleich von dem Streben nach Rache an dem unzuverlässigen Bundesgenossen, der Juda ins Verderben gestürzt hatte, hatten wieder und wieder den Untergang Ägyptens verkündet. In der Tat zog Nebukadnezar im J. 568 gegen Ägypten, wo inzwischen Apries durch Amasis gestürzt worden war (569, s.u. S. 180). Ein Fragment seiner Annalen berichtet kurz von Kämpfen und Beute, ohne daß sich Genaueres erkennen ließe. Wenn eine Inschrift eines hohen Beamten des Apries, der zugleich Statthalter der nubischen Grenzlande war, in sehr allgemeinen Ausdrücken von einer Heimsuchung Ägyptens durch die Asiaten spricht, so muß sich das auf dasselbe Ereignis beziehen, und der Krieg hat entweder schon unter Apries begonnen, oder man erkannte zur Zeit desselben den Apries noch offiziell als König neben Amasis an315. Im übrigen war Nebukadnezar ein viel weiserer Staatsmann, als Jeremia und Ezechiel erwartet hatten, und am wenigsten jagte [178] er dem Ruhm eines Eroberers nach. Die Unterwerfung Ägyptens hat er in keiner Weise versucht. Das Ziel dagegen, welches er allein erstrebte, den Invasionen der Ägypter energisch ein Ende zu machen, hat er vollkommen erreicht316.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 175-179.
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