Karthago

[636] Mit seiner Machtstellung hat Massalia auch den Gegensatz gegen Karthago von Phokäa geerbt, und dieser war gefährlicher als die Feindschaft der Etrusker. Die karthagische Politik hat die Richtung, welche sie im 6. Jahrhundert eingeschlagen hatte, konsequent festgehalten. Ein einziges Mal hat man sich zu einem großen, weitausschauenden Unternehmen verleiten lassen, als das Bündnis mit Xerxes volle Gewähr eines sicheren Gelingens zu bieten schien. Als aber der Angriff auf die sizilischen Herrscher wider Erwarten zu einer schweren Niederlage führte, ist Karthago zu der alten bedächtigen und abwartenden Politik zurückgekehrt. Zufrieden, seinen Besitz zu behaupten, hat es, so rege auch der diplomatische Verkehr gewesen sein wird, sich jeder Intervention in den sizilischen Angelegenheiten enthalten und auch die alten Bundesgenossen, die Etrusker, ihrem Schicksal überlassen, als Hieron sie angriff. Um so zäher dagegen hat man an dem Ziel festgehalten, den südwestlichen Teil des Mittelmeers vollständig in ein karthagisches Meer zu verwandeln und hier wie auf dem Ozean jeden fremden Konkurrenten auszuschließen. Die Westspitze Siziliens, Sardinien, die Pityuseninsel Ebusos bildeten die großen Marksteine der karthagischen Macht; um das Gebiet abzuschließen, mußte der Süden Spaniens hinzukommen. Gades, so wird berichtet, wurde von den benachbarten spanischen Stämmen (also wohl den Tartessiern) angegriffen, die auf seinen Wohlstand neidisch waren, und wandte sich um Hilfe an Karthago. Die Karthager [636] gewährten sie ihm, benutzten aber die Gelegenheit, um ihm einen Teil seines Gebiets zu entreißen. Auch von Kämpfen zwischen Karthago und Gades selbst, von einer Belagerung und Erstürmung der Stadt ist uns Kunde erhalten770. Wie Gades wurden auch die übrigen Phönikerstädte in Spanien (Karteja, Sexi, Abdera) Karthago untertan und durch neue Ansiedlungen vermehrt. Diese Entwicklung führte zum Konflikt mit Massalia, mit dem es auch vorher schon an Reibungen nicht gefehlt haben mochte. »Als über die Wegnahme von Fischerbooten zwischen Massalia und Karthago Krieg ausgebrochen war,« erzählt Justin771, »haben die Massalioten die karthagischen Heere oft geschlagen und ihnen schließlich Frieden gewährt.« Dieser dürftige Auszug aus einem wahrscheinlich schon sehr unzulänglichen Bericht läßt den Hergang nur ganz ungenügend erkennen. Daß die Massalioten Seesiege über Karthago erfochten haben, beweisen eine Apollostatue und ein ehernes Kultbild der Athena, die sie aus der Beute nach Delphi weihten772. Auch haben sie ihre Besitzungen an der Westküste Spaniens behauptet und von hier aus nachhaltigen Einfluß auf das Binnenland geübt – darauf bezieht sich die Bemerkung: »sie schlossen Freundschaft mit den Spaniern«, die sich bei Justin an die Erwähnung des Kriegs anschließt. Wenn Karthago die Absicht gehabt hat, auch die nördlichen Küsten des Westmeers in seinen Machtbereich zu ziehen – die Anwerbung von Spaniern vom Ebro, Elisykern und Ligurern für das Heer Hamilkars 480 weist darauf hin –, so hat es den Plan nicht durchführen können. Dagegen Mainake und die Verbindung mit dem Ozean haben die Massalioten verloren. Mainake wurde zerstört, in seiner Nähe die Karthagerstadt Malaka gegründet. Die ganze Südküste Spaniens bis nach Mastia in der Gegend des späteren Neukarthago wurde karthagischer Besitz; selbst noch weiter nördlich lag eine phönikische [637] Ansiedlung an der Seguramündung. Wieweit es dabei zu Kämpfen mit den Spaniern gekommen ist, wissen wir nicht. Die Mastiener (Bastuler) an der Küste sind wohl untertänig geworden, während die Tartessier im Bätistal unabhängig blieben; denn keine Spur weist darauf hin, daß Karthagos Gebiet sich vor den Eroberungen des Hamilkar Barkas tiefer ins Binnenland ausgedehnt hat. Allerdings blieb den Tartessiern nach dem Verlust der Verbindung mit den Griechen nur die Anlehnung an Karthago übrig. Ihre Handelsstadt Tartessos an der Bätismündung ist später verschollen; sie mag in diesen Kämpfen verfallen oder zerstört sein. (vgl. Bd. II2 2, S. 96). – Aushebungen wurden unseres Wissens in Spanien nicht vorgenommen: die unterworfenen Gebiete waren wohl meist den abhängigen Phönikerstädten zugeteilt. Den Lockungen der karthagischen Werber dagegen sind die Iberer jederzeit in großer Zahl gefolgt773. Sonst ist die Einwirkung Karthagos auf Spanien gering gewesen. Selbst wenn die Iberer die Schrift zunächst den Phönikern verdanken sollten, scheint doch in ihrer Gestaltung daneben griechischer Einfluß stark hervorzutreten; und die reiche Literatur der Turdetaner (Tartessier), welche Sagen, Traditionen und Gesetze in poetischer Form enthielt, ist gewiß nicht unter phönikisch-karthagischer Anregung entstanden, (s. Bd. II2 2, S. 104f.). – Welche Zeit diese Entwicklung in Anspruch genommen hat, ist nicht zu ermitteln. Sicher steht nur, daß Karthago, als es um das Jahr 344 aufs neue einen Vertrag mit Rom schloß, sein Absperrungssystem auch auf den Süden Spaniens »von Mastia im Tarseion (d.i. im Tartessierland, Bd. III2 S. 637, 1) an« ausgedehnt hat. Aber damals wird diese Küste längst karthagisch gewesen sein; die gegen die ältere Zeit äußerst dürftige Kunde, welche die griechischen Schriftsteller des 4. Jahrhunderts, vor allem Ephoros und Skylax, vom Westen besitzen, weist darauf hin, daß der Fall Mainakes und der Verlust der Verbindung mit dem Westen etwa in die letzten Jahrzehnte des 5. Jahrhunderts zu setzen ist774.

[638] Durch die Besetzung der südspanischen Küsten waren die Karthager in der Lage, allen Fremden die Fahrt durch die Straße von Gibraltar und die Aufsuchung der ozeanischen Küsten unmöglich zu machen. Das Absperrungssystem, dessen urkundlicher Ausdruck in den Verträgen mit Rom erhalten ist, wurde mit aller Strenge durchgeführt. »Die Karthager bohrten die Schiffe in den Grund, wenn ein Fremder nach Sardinien oder den Säulen des Herakles fahren wollte«, sagt Eratosthenes; »daher finden die Nachrichten über den Westen meist wenig Glauben.« Die Verbindung der Griechen mit Gades und Tartessos hörte auf, die atlantischen Küsten Europas und gar die Zinninseln, an deren Existenz schon Herodot nicht mehr glauben wollte (Bd. II2 S. 101), sanken in Vergessenheit; an ihre Stelle traten fabelhafte Erzählungen von einer gesegneten Insel im fernen Ozean, die die Phöniker entdeckt hätten, deren Kenntnis aber die karthagische Regierung nicht nur den Fremden, sondern auch dem eigenen Volk streng verborgen halte, damit dies nicht, durch die Kunde verlockt, dahin auswandere775. Die älteren Bestrebungen zur Erschließung und Ausnutzung der ozeanischen Küsten sind von den Karthagern eifrig fortgesetzt worden; in Europa haben sie die Verbindung mit den keltischen Küsten und den Zinninseln festgehalten, in Afrika den Gedanken aufgenommen, die Umschiffung des Kontinents, die einst von Osten her den Phönikern Nechos gelungen war, jetzt von Westen mit dauernden Ergebnissen auszuführen – eine Aufgabe, deren Lösung Euthymenes von Massalia (o. S. 635) und vor kurzem noch, zweifellos von Karthago unterstützt, der Perser Sataspes [639] (o. S. 95) vergeblich versucht hatten. Gegen die Mitte des 5. Jahrhunderts unternahmen die führenden Staatsmänner Karthagos, die Brüder Himilko und Hanno, Entdeckungsfahrten, jener an der europäischen, dieser an der afrikanischen Küste. Die Berichte beider sind später den Griechen zugänglich geworden776. Himilko ist jedenfalls bis an die östrymnischen, d.i. die Zinninseln, vorgedrungen und hat von der nordfranzösischen Küste, wo vor kurzem nach Verdrängung der Ligurer die Kelten sich festgesetzt hatten, Kunde gebracht. Im übrigen haben wir aus ihm nur verschwommene Nachrichten über die Gefahren der Ozeanfahrt, die Untiefen, die Windstillen und Nebel, den Seetang, die riesigen Seeungeheuer. Dagegen ist uns von Hannos Bericht eine griechische Übersetzung im Auszug erhalten. Seine nächste Aufgabe war, an der Küste jenseits der Heraklessäulen »libyphönikische (d.h. mit Phönikern aus dem karthagischen Gebiet besiedelte) Städte zu gründen«. Daher ging er mit einer Flotte von 60 Pentekonteren in See, »die gegen 30000 Männer und Frauen« – die Zahl ist wohl bedeutend übertrieben – »mit sich führte und mit Proviant und allem anderen wohl versehen war«. Südlich von Lixos hat er an der marokkanischen Küste sechs Ortschaften angelegt, an die sich weiter südlich auf einer kleinen Insel Kerne (Kyrauis bei Herodot) am Nordrand der Sahara, wahrscheinlich an der Mündung des Flusses Sakhiet el Hamra in fruchtbarer Gegend gegenüber den Kanarischen Inseln, ein letztes und wichtigstes Emporium anschloß, an einer Stelle, wo schon früher ein stummer Tauschhandel mit den Eingeborenen sich gebildet hatte. Von hier aus ist er noch etwa einen Monat lang weit an der Küste der Sahara entlang und über dieselbe hinaus bis nach Senegambien und der Guineaküste vorgedrungen, vielleicht bis zum Kap Palmas; schließlich mußte er aus Mangel an Lebensmitteln das weitere Vordringen aufgeben. Allzuviel war an den unwirtlichen Küsten nicht zu holen, so daß die Fahrt schwerlich wiederholt worden ist. Dagegen entwickelte sich auf der Insel Kerne ein lebhafter Tauschhandel mit den Eingeborenen: die Kaufleute brachten Salben und ähnliche Toilettengegenstände, attische Tongefäße, auch Wein; die Eingeborenen [640] zahlten in Tierfellen und Elfenbein, daneben wie es scheint auch in Gold, das von Guinea durch Tauschverkehr vielfach bis hierher gelangte777. – Die Gründung dieser Kolonien am Ozean beweist, daß die Mittelmeerküste und Lixos bereits vorher von den Karthagern abhängig und kolonisiert waren.

Seit einem Jahrhundert waren die Phönikerstädte Nordafrikas von Karthago abhängig; allmählich war die ganze Küste von den Philänenaltären an der Großen Syrte bis zum Ozean besetzt und, wo die Beschaffenheit des Landes es zuließ, mit Kastellen und Städten besiedelt worden. Das Binnenland dagegen empfand wohl die Abhängigkeit von der mächtigen Handelsstadt und war ein ergiebiger Werbeplatz für ihre Heere; aber eine karthagische Herrschaft bestand hier nicht. Die Gewinnung der Seeherrschaft und der Häfen und Küsten des Westmeers bildete die Grundlage der karthagischen Macht; Sardinien, Sizilien und die südspanische Küste standen im Zentrum ihrer Politik und ihrer Unternehmungen. Jetzt erst, gegen die Mitte des 5. Jahrhunderts, ging Karthago daran, auch das Binnenland zu erobern und ein nordafrikanisches Reich zu begründen. Die Tributzahlung, die man bisher den Libyern geleistet hatte, wurde eingestellt und der Krieg begonnen. Auch hier war Hanno der Führer778. Die ackerbauenden libyschen [641] Stämme, die Zaueken im Hinterlande Karthagos und im Bagradastal (Zeugitana) und weiter südlich in Byzacium die Byzanten (Gyzanten, Zyganten), teilweise wohl auch die Maxyer an der Kleinen Syrte und am Tritonsee (den Schotts)779 wurden vollständig unterworfen. Auch gegen die Stämme des Westens, die »Nomaden« (Numider) von Algier und die Mauren in Marokko, wurde Krieg geführt. Eine wirkliche Unterwerfung dieser Stämme hat Karthago weder erstrebt, noch hätte es sie durchführen können; an der unwirtlichen, felsigen und hafenlosen Küste des Nordwestens war selbst eine Einziehung des Küstengebiets unmöglich. So begnügte man sich, ein Bundes- und Abhängigkeitsverhältnis wenigstens der angrenzenden Stämme und ihrer Häuptlinge herzustellen, welches das karthagische Gebiet gegen Einfälle sicherte und sie vielleicht zum Teil zur Stellung von Hilfskorps verpflichtete oder wenigstens der karthagischen Werbung die Wege freigab. Um so vollständiger wurde das Ackerland des Ostens unterworfen; in der neugeschaffenen Provinz, deren Umfang, abgesehen vom Süden, ungefähr der heutigen Regentschaft Tunis entsprochen haben mag, hatten die Libyer die volle Schwere der Kaufmannsherrschaft zu empfinden. Sie verloren alle Selbständigkeit und standen unter dem harten Regiment der karthagischen Feldherrn, Vögte und Steuereintreiber. Die Hälfte des Bodenertrags nahm Karthago für sich, dazu hohe Steuern von den Dorf- und Stadtgemeinden, und bei Rückständen kannten die Beamten keine Schonung780. Überdies wurde die kriegstüchtige Mannschaft hier nicht angeworben, sondern ausgehoben und unter karthagischen Offizieren in die überseeischen Garnisonen und Schlachtfelder geschickt781. Ein großer [642] Teil des Landes wurde karthagischer Privatbesitz; durch Konfiskationen, namentlich bei Steuerrückständen, wird derselbe dauernd gewachsen sein. So entstanden hier große Latifundien, die der karthagischen Aristokratie gehörten und mit Sklaven bewirtschaftet wurden782. Die Bodenkultur nahm dadurch in dem ergiebigen, äußerst fruchtbaren Lande einen gewaltigen Aufschwung; die rationelle, die menschliche Arbeitskraft rücksichtslos ausbeutende Landwirtschaft der Karthager, deren Grundsätze Mago in einem umfangreichen Lehrbuch zusammengefaßt hat, ist später für die Römer vorbildlich geworden. »Das Land war voll von Gartenwirtschaften und Pflanzungen«, heißt es in einer Schilderung aus dem Jahr 310, »da das Wasser durch Gräben überall hingeleitet war. Da reihten sich Dorfschaften aneinander mit prächtigen, reich ausgestatteten Häusern und Wirtschaftsgebäuden. Das Land war zum Teil mit Wein, zum Teil mit Oliven und Obstbäumen bepflanzt; dazu kamen Herden von Rindvieh und Kleinvieh und im Sumpfland Gestüte. So machte das ganze Land den Eindruck mannigfachen Wohlstands, da es den vornehmsten Karthagern gehörte, und diese ihren Reichtum zur Beschaffung aller Genüsse verwerteten«783. Gegen feindliche Angriffe schien die Provinz völlig gesichert: die Libyer waren geknebelt, gegen die Überfälle der Nomaden schützte man sich durch die Anlage von Grenzgräben784. Mit Recht konnte von Hanno, dem Schöpfer der Provinz, gesagt werden, »er habe die Karthager aus Tyriern zu Afrikanern (Libyern) [643] gemacht.« Er hatte ihnen »großen Reichtum, zahlreiche Küstenplätze, Häfen und Trieren geschaffen und die Herrschaft über ein weites Land und ein weites Meer verliehen785

Ähnlich wird es auf Sardinien ausgesehen haben, soweit die Insel karthagisch war – nie unterworfen waren trotz vieler Kriege die Iolaer oder Ilienser, der Hauptstamm der Ostküste786. Auch hier gab der Ackerbau reichen Ertrag; in der Regel hat die Insel den karthagischen Heeren auf Sizilien das Brot geliefert. Wenn Timäos dagegen erzählte, die Karthager hätten auf der ehemals so fruchtbaren Insel alle Fruchtbäume umgehauen und den Eingeborenen ihre Anpflanzung bei Todesstrafe verboten, so kann sich das nur auf Maßregeln gegen rebellische oder Grenzstämme beziehen, die fälschlich auf die ganze Insel ausgedehnt sind787. – Von Aushebungen oder Truppenwerbungen auf Sardinien erfahren wir nichts. Dagegen hat man für den großen sizilischen Feldzug des Jahres 406 auch auf den Balearen, deren Bewohner als Schleuderer berühmt waren, Werbungen vorgenommen788. Im übrigen scheint von diesen Inseln, die die Brücke von Sardinien nach Spanien bildeten, nur die Pityuseninsel Ebusos (Bd. III2 S. 643 ganz in karthagischen Händen gewesen zu sein, während man sich auf den beiden größeren Balearischen Inseln mit der Besetzung einiger Küstenpunkte begnügt hat789.

Über den eigentlichen Untertanen Karthagos stehen die »Bundesgenossen«, [644] die phönikischen Städte Nordafrikas, Siziliens, Sardiniens, Spaniens, mögen sie nun altphönikische oder karthagische Gründungen sein. Auch Utika ist jetzt in den Karthagischen Bund eingetreten (Bd. III2 S. 642, 2. Auch diese Städte, die in Afrika und Spanien meist als Libyphöniker bezeichnet werden, waren tatsächlich Karthago untertan, so gut wie die attischen und später die römischen Bundesgenossen. Sie hatten keine auswärtige Politik, ja aller Verkehr mit dem Ausland war ihnen – mit Ausnahme der freier gestellten Städte auf Sizilien – untersagt; sie mußten einen hohen Tribut zahlen – so nach Polybios Leptis zwischen den Syrten, wohl als Haupt eines größeren Bezirks, täglich ein Talent790, was allerdings, an welches Talent wir immer denken mögen, doch kaum glaublich erscheint –; im Kriegsfall werden auch in ihnen Aushebungen vorgenommen, und karthagische Aufsichtsbeamte sorgen dafür, daß die Interessen der herrschenden Stadt gewahrt werden791. Aber sie haben sich in die Notwendigkeit ohne ernsten Widerstand gefügt und in schweren Zeiten wiederholt treu zu Karthago gehalten. Sie sind eines Bluts mit den Karthagern, sie haben dasselbe Recht, sie stehen wie diese hoch über den fremdsprachigen Untertanen und nehmen teil an dem Gewinn, den die Machtstellung Karthagos dem Phöniker bringt. Im Gegensatz zu den offenen Ortschaften der Libyer sind ihre Städte durchweg ummauerte, selbständige, wenn auch unter Kontrolle stehende Gemeinden mit eigenem Regiment und eigenen Beamten, Suffeten, an der Spitze. Ihre Bürger stehen privatrechtlich den Karthagern gleich und können im Heer avancieren, ja zu hohen Posten gelangen. Wenn ihnen der Handel mit dem Ausland, den Griechen und den italischen Stämmen, gesperrt ist, so ziehen sie dafür aus dem Handel mit der Hauptstadt, mit den Untertanen, mit den barbarischen Stämmen des Hinterlands reichen Gewinn. Dazu bringt ihnen Karthagos Macht Friede und Sicherheit. So prosperieren die Städte unter seiner Herrschaft – deutlich tritt das namentlich auf Sardinien hervor, wo eine starke phönikische Bevölkerung [645] ansässig wird und Städte wie Karalis und Sulci, auch wenn sie schon in früherer Zeit gegründet sind, jetzt erst zu Bedeutung gelangen792.

Wie Sparta, Massalia, Korinth, Lokri zeichnet sich Karthago im Gegensatz zu der Mehrzahl der griechischen Staaten aus durch die Stabilität seiner inneren Verhältnisse, die schroffe Übergänge und Revolutionen nicht kennen. Sie beruht nicht sowohl auf den Eigentümlichkeiten des semitischen Volkscharakters als vielmehr auf der exponierten Stellung der Stadt, die alle Machtmittel zusammenfassen mußte, wollte sie die Herrschaft über ein so ausgedehntes und so verschiedenartig zusammengesetztes Gebiet behaupten, vor allem aber darauf, daß unter diesen Machtmitteln das Geld durchaus in erster Linie stand. Nur wenn die Finanzen sich in blühendem Zustand befanden, der Schatz wohlgefüllt, das Arsenal und die Zeughäuser reich versorgt waren, konnte man ein großes Söldnerheer anwerben und die starke Flotte imstand halten, welche zur Behauptung der Seeherrschaft und der überseeischen Provinzen unentbehrlich war. Ein derartiger Staat kann nur bestehen, wenn eine mächtige Kaufmannsaristokratie das Regiment führt; und jeder neue Erfolg stärkte ihre Stellung, es sei denn, daß ein siegreicher General den Versuch wagte, sich über sie zu erheben. Die Masse des Volks, die Handwerker, Händler, Arbeiter, Matrosen, dem Namen nach souverän und zur Entscheidung berufen, wenn die regierenden Beamten und der Rat nicht einig waren, war materiell durchaus abhängig von den reichen Kaufleuten[646] und hatte teil an dem Wohlstand, den diese erwarben. Ihr konnte es nur willkommen sein, daß die Bürgerschaft, im Gegensatz zu den zinsenden Bundesstädten und den hart ausgebeuteten Untertanen, frei war von Steuern und Abgaben, daß sie nur in geringem Maß und wohl nur bei größeren Kriegen zur Konskription herangezogen wurde793 und im wesentlichen Untertanen und Fremde für sie die Haut zu Markt trugen. Die höheren Ämter behielten die Vornehmen für sich, und hier gab neben ererbtem Ansehen vor allem das Vermögen den Ausschlag. Ganz offen, etwa wie bis vor kurzem in England der Stellenkauf in der Armee, wurde der Ämterkauf betrieben. Jahrelang wurden dieselben Männer zu den Ämtern wiedergewählt oder saßen in den regierenden Ausschüssen, dem Rat und den Pentarchien, über deren Einrichtung und Funktionen uns im übrigen jede genauere Kunde fehlt. Selbst die Vereinigung mehrerer Ämter in derselben Hand war zulässig. Besoldungen gab es nicht; aber es galt als selbstverständlich, daß das Amt seinen Mann ernähren und die Auslagen mit Zinsen wieder einbringen mußte, teils durch legitime Emolumente, vor allem aber durch Bestechlichkeit und durch Erpressungen von den Untertanen. Die abhängigen, aber nicht minder einträglichen Posten wurden Leuten aus dem Volk gegeben, und dies dadurch willfährig und bei guter Laune erhalten. Auch in den Bundesstädten und in den neugegründeten Kolonien fanden viele Grundbesitz und Wohlstand. So war Karthago tatsächlich ein durchaus aristokratischer Staat. Aber die regierende Oligarchie erhielt sich dadurch lebensfähig, daß sie sich nicht als Stand abschloß oder gar den Mitgliedern des herrschenden Standes die Teilnahme am Geschäftsleben verbot, wie das in so vielen ähnlichen Staaten, zuletzt noch in Venedig, geschehen ist und überall notwendig zum Verfall der Aristokratie geführt hat. Auf diese Weise ist es Karthago möglich geworden, ein Reich zu begründen und Jahrhunderte hindurch zu behaupten, wie es nicht nur dem Umfang, sondern auch den Machtmitteln nach niemals auch nur entfernt von einem griechischen Staat erreicht worden ist. Aber allerdings [647] haben die regierenden Kreise wohl zäh festgehalten, was sie besaßen und was ihr unmittelbarer Vorteil gebot; eine unwiderstehliche Energie des Angriffs und eine volle Hingabe an den Staat dagegen konnten sich in einem Gemeinwesen nicht entwickeln, in dem das Geld alles galt und in dem die Politik zum Verzicht auf ein wirkliches Bürgerheer und zu tiefem Mißtrauen gegen die Armee zwang. So ist es gekommen, daß Karthago die Unterwerfung des Westens nicht vollendet hat und daß die Griechen Siziliens wie Massalia sich ihm gegenüber zu behaupten und ein Gleichgewicht der Mächte herzustellen vermochten794.

Die politische Leitung des Staats hat auch in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts in den Händen der Familie Magos gelegen, deren Stellung durch Hamilkars Niederlage an der Himera nicht erschüttert worden ist; sie war durch seinen Tod gesühnt. Hamilkars Söhne Himilko, Hanno, Gisgo und die Hasdrubals, seines älteren auf Sardinien gefallenen Bruders, Hannibal, Hasdrubal und Sapho, führten das Regiment; sie bekleideten vermutlich abwechselnd das Suffeten-und Feldherrnamt. Am bedeutendsten ist uns unter ihnen überall Hanno entgegengetreten, der Vollender der Größe Karthagos. Aber etwa um die Mitte des Jahrhunderts trat ein Umschwung ein; die Aristokratie erhob sich gegen die nun schon drei Generationen andauernde übermächtige Stellung des Hauses, die in eine Monarchie überzugehen schien. Der entscheidende Gegenzug war die Einrichtung eines Staatsgerichtshofs, der die Kontrolle über die Feldherrn ausüben und ihre Rechenschaftsablage entgegennehmen sollte. Er bestand aus 104 Mitgliedern, die von den Pentarchien gewählt wurden. Da die Wiederwahl auch hier zulässig war, wurden die Stellen bald lebenslänglich und die Körperschaft die eigentliche Vertreterin der herrschenden Klasse und ihrer Interessen; sie gewann eine ähnliche Stellung, wie in [648] Sparta die Ephoren und in Venedig der Rat der Zehn795. – Die herrschende Familie wagte keinen Widerstand, sei es aus Patriotismus, sei es, weil ihr die buntscheckige Armee und die von der Aristokratie abhängigen Massen keine ausreichende Stütze gewähren konnten. So folgte bald ihr völliger Sturz. Gegen Hanno wurden Beschuldigungen erhoben wegen seiner über das bürgerliche Maß hinausgehenden Lebensführung; auch die Niederlage an der Himera scheint man jetzt gegen die Söhne des unglücklichen Feldherrn ausgespielt zu haben. Hanno wurde verurteilt796 und mußte in die Verbannung gehen, ebenso sein Bruder Gisgo, der in Selinus eine Zuflucht fand. Die Gefahr einer Usurpation war beseitigt; aber der Gegensatz zwischen den Feldherrn und der bürgerlichen Gewalt hat von da an bis ans Ende die Geschichte Karthagos beherrscht und seine Unternehmungen gelähmt.

Von der Kultur Karthagos läßt sich ein ausreichendes Bild nicht gewinnen. Gewaltige materielle Leistungen hat die Stadt aufzuweisen, ein reges Leben und einen hochentwickelten Wohlstand. In allen materiellen Errungenschaften, in der Industrie, im See-und Kriegswesen stand sie ebenbürtig neben den Griechen; in den politischen Einrichtungen konnte sie ihnen in mancher Beziehung zum Muster dienen. Wieweit sich aber ein höheres geistiges Leben entwickelt hat, läßt sich trotz dem, was wir über die Periplen des Hanno und Himilko und über Magos landwirtschaftliches Werkwissen, nicht erkennen. Den Stämmen Afrikas hat Karthago, so stark es sie bedrückte, doch die Elemente der Zivilisation gebracht, wie denn auch die phönikische Sprache bei den Libyern den einheimischen Berberdialekt mehr und mehr verdrängt [649] hat. Aber eine Einwirkung, wie etwa die Griechen auf Italien oder auch nur Massalia auf Gallien, haben die Phöniker auf die Völker des Westens niemals geübt. Die Leistungen des Staats und die Stabilität seiner Verhältnisse haben den Griechen mit Recht imponiert, zumal als im. 4. Jahrhundert daheim alles zusammenbrach. In Handelsverkehr stand man mit den Griechen797, und mancherlei persönliche Beziehungen waren nicht zu vermeiden – war doch Hamilkars, des Feldherrn an der Himera, Mutter eine Syrakusanerin (Herod. VII 166). Aber im übrigen stand Karthago den Griechen auch kulturell durchaus fremd und feindlich gegenüber798. Von den griechischen Einflüssen, welche uns in den Phönikerstädten in der asiatischen Heimat, auf Sizilien und selbst auf Sardinien entgegentreten, ist in Karthago und Nordafrika nichts zu spüren. Bezeichnend dafür ist, daß, während die von allen karthagischen Untertanen am freiesten gestellten sizilischen Städte sich dem Einfluß der griechischen Verkehrsformen nicht entziehen konnten und daher Münzen zu prägen begannen (o. S. 612f.), Karthago durchaus bei dem alten orientalischen Barrenverkehr blieb, trotz des hochentwickelten Standes seiner Finanzen. Es stand also in dieser Beziehung selbst hinter dem Perserreich zurück. Und doch konnte man eines bequemeren Wertmessers nicht entbehren; die Regierung gab daher kleine, mit dem Staatssiegel gestempelte Lederbeutel als Kreditgeld aus799. In jeder Beziehung erscheint Karthago als ein vorgeschobener Posten des semitischen Orients, [650] mit seiner brutalen Kriegführung, seiner rücksichtslosen Aussaugung der Untertanen, seinem Strafrecht, das gegen verurteilte Feldherrn – und gewiß auch gegen Verbrecher – die barbarischsten Strafen gestattete, und vor allem mit dem blutigen Brauch, in Notfällen die erstgeborenen Söhne, wenn sie herangewachsen waren, den zürnenden Göttern zu opfern800. Auch die karthagischen Waren tragen durchaus orientalischen Charakter; die karthagischen Kunstgegenstände, Schmucksachen, Siegel und Amulette, welche sich auf Sardinien und in Italien gefunden haben, halten an den altüberkommenen Typen fest, in den rohen Skulpturen der karthagischen Votiv- und Grabstelen zeigt sich nirgends die geringste griechische Einwirkung, in einer Zeit, wo dieselbe im phönikischen Mutterlande bereits immer stärker zur Geltung kommt (o. S. 130).


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 636-653.
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