Perikles' Stellung und Persönlichkeit

[695] Durch den Ostrakismos des Thukydides wurde Perikles der unumschränkte Herrscher des attischen Staats. Die Opposition hatte nicht nur ihren Führer verloren, sondern war völlig geworfen und zersprengt; weder unter den Anhängern noch unter den Gegnern hatte Perikles einen Rivalen. Die Masse des Volks war dem Manne, der sie von Sieg zu Sieg geführt, der die Friedenspolitik begründet und ihr wie der ganzen Stadt so reiche Quellen des Wohlstands und des Glanzes erschlossen hatte, unbedingt ergeben. Das wahre Wesen der attischen Verfassung enthüllte sich deutlich: es war, wie Thukydides es formuliert, »dem Namen nach eine Volksherrschaft, tatsächlich die Herrschaft des ersten Mannes«. Alle Fäden der äußeren und inneren Politik liefen in Perikles' Hand zusammen; in seinem Kabinett wurden alle wichtigeren Maßregeln entworfen und für die Volksversammlung vorbereitet, sei es, daß er selbst, sei es, daß einer seiner Vertrauten, der in dem betreffenden Jahre in den Rat gelost war, die Anträge einbrachte. Jahr für Jahr wurde er zum leitenden Strategen wiedergewählt und durch die Kontinuierung des Amts, die eine Rechenschaftsablage so gut wie unmöglich machte (vgl. Bd. IV1 S. 318), die juristische Verantwortung nahezu suspendiert. Auch den meisten Baukommissionen gehörte er Jahr für Jahr an, so der für den Parthenon, der für das in diesem zu errichtende große Götterbild, der für das Odeon. »Ihm haben«, sagt der Komiker Telekleides, »die Athener übergeben die Tribute der Städte und diese selbst, sie zu binden und zu lösen, die steinernen Mauern, die einen zu bauen, die anderen wieder niederzureißen, Verträge, Macht, Herrschaft, Friede, Reichtum und Wohlstand.« Einen neuen Tyrannen nannten ihn seine Feinde, Zeus der Olympier, der blitzt und donnert, hieß er den [695] Komikern; man erzählte, der Mutter habe vor seiner Geburt geträumt, sie bringe einen Löwen zur Welt.

Ein großer Stab von Gehilfen stand dem Herrscher zur Seite, teils lediglich seine Werkzeuge und Handlanger, teils wirkliche Mitarbeiter, darunter bedeutende Männer, die durch Geburt und Begabung zu einer leitenden Rolle im Staate berufen waren. Manche mögen sich ihm zunächst nur widerstrebend untergeordnet haben, bis sie sich, je mehr er hervortrat, um so williger der Überlegenheit seines Geistes fügten; andere sind vielleicht nur darum mitgegangen, weil gegen ihn kein Emporkommen möglich war. Auch von den alten Gegnern, dem Anhang des Kimon und Thukydides, haben sich nicht wenige ihm angeschlossen, je deutlicher es wurde, daß er die großen Aufgaben des Staats fest im Auge behielt und den Launen der Masse nicht nachgab. So bekam das Regiment des großen Volksmannes immer mehr einen konservativen Charakter, und man konnte ihm um der Machtstellung Athens willen seine Verfassungsreformen verzeihen, auch wenn man sie nicht billigte. Zu seinen Genossen851 gehören Sophokles der Tragiker, 443 Hellenotamias (o. S. 693), 441 Stratege852; Andokides, Sohn des Leogoras aus dem Kerykenhaus, 446 in der Friedensgesandtschaft nach Sparta, 441 Stratege; Hagnon, der Sohn des Nikias, der Gründer von Amphipolis; Kallias, des Kalliades Sohn, der viele Volksbeschlüsse, so den von 434 über die Regelung der Finanzen (o. S. 688) eingebracht hat, 432 Stratege; ferner Glaukon, der Sohn des 464 bei Drabeskos gefallenen Leagros, wie Perikles aus der Phyle Akamantis, Stratege 441, 434; Menippos, als einer der vertrautesten Freunde des Perikles genannt; Phormion, Stratege seit 440; Archestratos, Stratege 433, und Antikles, Stratege 440, beide unter den Antragstellern der Beschlüsse über Chalkis 446 (o. S. 667); sodann unter den Jüngeren Nikias, Sohn des Nikeratos, Diotimos, Sohn des Strombichos, Lamachos und viele andere, von denen [696] bei unserem lückenhaften Material oft nicht einmal der Name auf uns gekommen ist. Für die Bauten war Phidias der Vertrauensmann des Perikles, der Meister des olympischen Zeus, der damals auf der Höhe seines Ruhmes stand.

Perikles war eine harmonische Natur, wie in der äußeren Erscheinung – trotz des gewaltigen Schädels, über dessen Meerzwiebelgestalt die Komiker spotten – so in den geistigen Anlagen. Was die Natur ihm verliehen, hatte Erziehung und Lebensführung voll entfaltet; von allen Anregungen, die das Leben seiner Zeit brachte, war keine ihm fremd853. Militärisch war er durchgebildet erst als Krieger, dann als Feldherr zu Land und zur See. Die musikalische Erziehung des jungen Atheners, die Themistokles verschmäht hatte, hatte er durchgemacht, und aus dem Lehrer Damonides war sein politischer Berater geworden. Wenn er in jungen Jahren als Chorege eine Trilogie des Äschylos, vielleicht die »Thebais« 467, auf die Bühne gebracht hatte854, so stand er später in nahen Beziehungen zu Sophokles und Herodot. Wie hätte auch ein Athener des 5. Jahrhunderts, der seinem Volk aus dem Herzen zu reden vermochte, der literarischen und künstlerischen Entwicklung fremd und kalt gegenüberstehen können? Sein Verhältnis zu Phidias ist vom Künstler auf dem Schilde der Göttin verewigt: inmitten der Athener, welche die Amazonen abwehren, bildete er den Perikles in voller Kriegsrüstung, eine Amazone niederstoßend, und daneben sich selbst im Werktagsgewand, wie er mit beiden Händen einen Steinblock auf die Feinde schleudert855. Den Vertretern der alten Gläubigkeit, Männern wie dem Seher und Orakelpropheten Lampon (o. S. 675), hat Perikles die Berücksichtigung nicht versagt856. [697] Aber mächtig ergriff auch ihn die aus der Fremde hereinbrechende Naturphilosophie und die moderne Aufklärung: er hat Zeno den Eleaten gehört, Anaxagoras von Klazomenä wurde sein vertrauter Freund; einen ganzen Tag konnte er, als bei Kampfübungen ein Mitspieler durch einen unglücklichen Speerwurf getötet war, mit Protagoras über die Frage disputieren, wer der wahre Schuldige sei, der Werfende, der Speer oder der Veranstalter des Wettkampfs857. So blieb ihm keine Aufgabe fremd oder zu schwer, die an ihn herantrat. Begonnen hatte er als Parteiführer und zugleich als Träger einer altererbten und zäh verfolgten Familienpolitik, die dem Alkmeonidenhause die herrschende Stellung zurückgewinnen wollte, die es schon einmal in Athen besessen hatte. Manche Schatten, wie sie von der Gehässigkeit des in persönlichen Gegensätzen sich zuspitzenden Parteikampfes untrennbar sind, fallen auf den Anfang seiner Laufbahn; und als er, an die Spitze des Staats gelangt, von der Einseitigkeit einer Politik, die lediglich die inneren Verhältnisse im Auge hatte, sich frei zu machen suchte, hat er, um sich zu behaupten, dem Parteiprogramm erst recht bedenkliche Konzessionen machen müssen. Aber innerlich war er eine vornehme, wahrhaft aristokratische Natur, und in ihm lebte der Glaube an die unverwüstliche Lebenskraft eines freien Volkes, das die höchsten Aufgaben menschlicher Kultur erfüllen und so seine Herrschaft über die untertänigen Gemeinden zugleich zu behaupten und als berechtigt zu erweisen vermag. Dies Ideal ist das Geheimnis seiner Kraft und seiner Erfolge und auch seiner Mißgriffe, die es, wenn nicht politisch, so doch sittlich rechtfertigt, ja fast als notwendig erscheinen läßt. Es hat ihn getragen, solange er um die erste Stelle kämpfte; und es ist mit ihm gewachsen, als er sie dauernd errungen hatte. Das Gefühl der alleinigen Verantwortung, das eine kleinere Persönlichkeit niederdrückt, hebt den großen Menschen. Auch Perikles ist ein anderer und größerer geworden, [698] als er vom Parteihaupt zum Regenten des Staats emporstieg. Er wurde freier und eben deshalb gemäßigter. Hatte er früher den Massen manche Konzessionen gemacht, so war es jetzt, wo sie alles erlangt hatten, was sie begehren durften, seine Pflicht, sie im Zaume zu halten. Wie ein echter König verschmilzt er mit dem Staat, dessen Geschicke in seinen Händen lagen. Nicht mehr der Volksmann dominiert in ihm noch der Finanzminister noch der Schöpfer der künstlerischen Gestaltung Athens noch der Leiter der auswärtigen Politik oder der Feldherr; sondern alle diese Seiten seiner Tätigkeit vereinigen sich zu dem harmonischen Bilde des Staatsmanns, des Herrschers858. Die staatsmännische Höhe eines Themistokles freilich, der durch die Kraft seines Intellekts jede Situation durchschaut und mit sicherem Griff die richtigen Mittel findet, der, indem er jeder Wendung der Ereignisse zu folgen vermag, die Entwicklung souverän beherrscht, diese Höhe hat Perikles nicht erreicht, so nahe er ihr schließlich gekommen ist. Er ist immer mehr hineingewachsen auch in die äußere Politik, er hat den sicheren Blick und die feste Haltung gewonnen, die das Notwendige erkennt und mit rücksichtsloser Entschlossenheit, mit Einsetzung seiner eigenen Existenz durchzusetzen versucht. Aber gerade der Idealismus, der den Kern seines Wesens ausmacht, ist staatsmännisch seine Schwäche, wie in der inneren, so in der äußeren Politik geblieben: er hat ihm, so sehr er über die Einseitigkeiten seiner Anfänge hinausgewachsen war, doch den Blick getrübt für die harten Realitäten des Lebens und ihn auch später noch zu Unternehmungen verführt, die unter den gegebenen Verhältnissen keinen dauernden Erfolg bringen konnten, wie dem hellenischen Kongreß oder der Gründung von Thurii. Es kommt hinzu, daß sich infolge der verfehlten Kriegspolitik seit 460 die äußere Lage nun einmal so gestaltet hatte, daß Athen in die Defensive gedrängt war und alle Versuche, sich über dieselbe zu erheben, notwendig scheitern mußten. Seinem Wesen nach konnte das Programm einer gesunden äußeren Politik Athens im innersten [699] Kern nur noch negativ sein: Behauptung und Konsolidierung seines Besitzes. Schöpferisch hat Perikles daher allezeit nur auf dem Gebiet wirken können, von dem er ausgegangen war, in der inneren Politik.

Auf der inneren Geschlossenheit seiner Persönlichkeit und dem unverwüstlichen Idealismus, der sie beseelte, beruht die unwiderstehliche Wirkung seiner Rede, durch die er die Herrschaft über das Volk gewonnen hatte und dauernd behauptete. Es war nicht die gefeilte Kunstrede der späteren Zeit, welche dem geschulten Hörer den feinsten ästhetischen Genuß bot, aber eben deshalb eine volle und andauernde politische Wirkung nie mehr erreichen konnte: sondern das freie Wort einer gewaltigen, die Hörer nicht nur durch Abstimmung und Macht, sondern geistig und sittlich überragenden Persönlichkeit. Als der Regent sprach er zu seinen Athenern, nicht als geschmeidiger Diener des Volks. Daß er nur das Wohl des Ganzen im Auge hatte, daß er frei war von gemeinem Ehrgeiz und gar von dem Streben, aus seiner Stellung persönlichen Gewinn zu ziehen, wußte ein jeder, auch die, welche in der Hitze des Parteikampfes es zu bestreiten wagten. Stets setzte er sich selbst mit voller Überzeugung ein, unbeugsam, auch wenn die Massen tobten. Mit zündenden Worten redete er ihnen ins Gewissen, sie scheltend, wenn sie sich gehen ließen oder sich überhoben und Ungebührliches oder Unerreichbares begehrten, sie tröstend und aufrichtend, wenn sie kleinmütig verzagen wollten. So vermochte er stets das treffende Wort zu finden; so war er imstande, die Hörer nicht nur mit sich fortzureißen, sondern sie zu sich hinaufzuheben, sie innerlich zu erschüttern und zu überzeugen. Einen Donnerkeil führe er im Mund, behaupten die Komiker. Eupolis, der ihn als junger Mann noch gehört hat, nennt ihn (fr. 94) den redegewaltigsten aller Menschen: »so oft er auftrat, überholte er wie ein guter Renner alle Redner; nicht nur gelangte er schnell und sicher zum Ziel, sondern daneben saß die Überzeugungskraft auf seinen Lippen: so bezauberte er die Hörer und ließ allein von allen Rednern den Stachel in ihnen zurück.«

Seit Perikles der Leiter Athens geworden war, lebte er nur dem Staat. Sein großes Vermögen verwaltete ein treuer Sklave, [700] Euangelos, der genaue Rechnung zu führen angehalten war; die Erträge der Grundstücke wurden insgesamt verkauft, die Lebensbedürfnisse des Haushalts auf dem Markt eingekauft, da der Regent des Staats seinen privaten Geschäften nicht nachgehen durfte. Man sah ihn nur auf dem Wege zum Markt und zum Rathaus. Von aller Geselligkeit hielt er sich fern; es wird überliefert, daß er nur einmal, bei der Hochzeit seines Neffen, an einem Schmause teil genommen, aber auch da gleich nach der Mahlzeit sich entfernt habe. Auch darin war er das Gegenteil Kimons; seine Gegner und Neider spotteten wohl über seine ernste und feierliche Haltung, die jeden Scherz mied und sich auch durch Beleidigungen nicht zum Zorn fortreißen ließ. Ein gewaltiger Redner wie er ist ohne tiefe Leidenschaftlichkeit undenkbar; aber er hatte sich zu voller Selbstbeherrschung erzogen. So hat er zu den athenischen Staatsmännern, die er als Gehilfen nicht entbehren konnte, ein näheres persönliches Verhältnis nicht gewonnen. Von Sophokles hat er gesagt, er verstehe wohl zu dichten, aber nicht Feldherr zu sein; er hat es getadelt, daß er auch im Amte aus seinem Wohlgefallen an schönen Knaben kein Hehl mache: »nicht nur die Hände muß der Feldherr rein haben, sondern auch die Augen.« Er mochte lächeln, daß der Dichter und so manche andere den Feldherrn spielen wollten, und, wie die attische Verfassung nun einmal war, auch mußten. Aber der Philosoph Anaxagoras hat nicht nur seinem Verstand, sondern auch seinem Herzen nahegestanden; und unentbehrlich war ihm, ganz gegen die ionische Sitte, die auch in Athen dominierte – im Verborgenen gab es allerdings mehr Ausnahmen, als man eingestehen mochte –, die Liebe einer Frau. Die Ehe mit einer nahen Verwandten, der geschiedenen Frau des Hipponikos, hat ihm kein häusliches Glück gewährt; er hat sie entlassen, nachdem sie ihm zwei Söhne geboren hatte. Was er begehrte, fand er in Aspasia, der Tochter des Axiochos aus Milet, die als Hetäre nach Athen gekommen war. Ihr war er mit inniger Liebe ergeben, weit über das hinaus, was nach attischen Anschauungen dem Verhältnis zwischen Mann und Weib entsprach. Er hat sie in sein Haus aufgenommen und bis an den Tod ihr die Treue gewahrt. Als geistreiche, hochbetagte Frau, bei der [701] die angesehensten Athener verkehrten, als Meisterin lebendig angeregter Unterhaltung über alle Fragen des Lebens, welche die Zeit in ihren Tiefen bewegten, erscheint sie in den Schriften der Sokratiker. Auch Perikles hat mit ihr besprochen, was ihn beschäftigte, und manche Anregung von ihr erhalten; so ist es natürlich, daß die Athener von dem illegitimen Einfluß munkelten, den sie auf seine Entschließungen ausübe, und die Komiker sie als neue Omphale oder Deianira, oder auch als die Hera, der der Zeus von Athen untertan sei, auf die Bühne brachten859.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 695-702.
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