Die Anfänge der modernen Kultur. Euripides

[792] So tritt der einheitlichen, trotz alles Empirismus doch durchaus idealistischen und religiösen Weltanschauung, die Sophokles verkörpert, sie negierend, bekämpfend, verspottend, die entgegengesetzte Anschauung zur Seite. Einheitlich ist sie keineswegs: vielmehr ist eben das ihr Wesen, daß sie überall, auch auf geistigem und sittlichem Gebiet, der Persönlichkeit freien Spielraum gibt, daß sie an Stelle der geschlossenen Weltanschauung der früheren Zeiten und Kulturen die subjektive Überzeugung jedes einzelnen Individuums setzt. Zu den politischen und ökonomischen Gegensätzen, welche bereits nicht nur die ganze Nation, sondern innerhalb derselben wieder jeden einzelnen Staat zerreißen (o. S. 414f.), tritt eine neue, nicht weniger tiefgreifende Scheidung. Auch sie deckt sich keineswegs mit jenen Gegensätzen; es gibt Aristokraten wie Demokraten, Vornehme und Männer aus dem Volk, die streng am Alten festhalten, andere, die sich ganz den modernen Ideen in die Arme werfen. Aber schroff stehen, wie die Gebildeten der ungebildeten Masse, so die Ungläubigen den Gläubigen, die Aufgeklärten den in den alten Vorurteilen Befangenen gegenüber; und auch die Modernen scheiden sich wieder bei jedem einzelnen Satz ihrer Lehren. Gemeinsam ist ihnen allen nur die Negation des Überlieferten, und selbst da macht jeder an einem anderen Punkte halt. Aber auch diese Negation als Ganzes hat nur Bedeutung, weil ihr die entgegengesetzte Anschauung gegenübersteht; sobald der Widerspruch aufhörte, würde sie ihre Bedeutung verlieren und in sich zusammenstürzen. Etwas Positives, einen festen[792] Punkt, der die anerkannte Basis einer neuen universellen Weltanschauung bilden könnte, vermag die moderne Richtung noch nirgends zu finden: die alte Welt ist in Scherben geschlagen, eine neue Welt kann man nicht aufbauen; überall sieht man sich vor unlösbaren Problemen. Da ist es begreiflich, daß man sich in dem Streben »nach Erkenntnis«, dem Philosophieren, wie man mit einem in der Perikleischen Zeit aufkommenden, vielleicht aus Ionien übernommenen Ausdruck947 sagte, an die Weisheitslehrer wandte, wel che an den verschiedensten Orten der Griechenwelt aufgetreten waren und jetzt vielfach bereits nach Athen kamen. Nicht selten finden wir bei Euripides eine direkte Bezugnahme auf ihre Lehren. Vor allem aber hat das Auftreten der großen Häupter der Sophistik, des Protagoras und Gorgias, in Athen aufs nachhaltigste für die Verbreitung der neuen Anschauungen gewirkt; manche Gedanken haben erst durch sie hier Boden gefaßt. In den meisten Fällen dürfte es jedoch ebenso schwer sein, wie in der Entwicklung der deutschen Kultur des 18. Jahrhunderts in ihrem Verhältnis zu den Einwirkungen Englands und Frankreichs, festzustellen, ob ein Gedanke zuerst durch die fremden Lehrer nach Athen getragen oder wenigstens von ihnen entlehnt ist, oder ob er nur die bereitliegende und präzise Formulierung für eine Anschauung gab, die bereits selbständig aus dem Boden Athens hervorwuchs. Sehr verkehrt wäre es dagegen, wollte man die moderne Entwicklung Athens in ihrer Gesamtheit oder gar in ihren Wurzeln auf die Einwirkung der fremden Ideen zurückführen. Das wesentlichste Moment für die Genesis der modernen Kultur ist doch Athen selbst. Durch den Zwang seiner äußeren und inneren Entwicklung ist es reif geworden, die Ideen und Anregungen in sich aufzunehmen, die sich an anderen Stellen der hellenischen Welt aus analogen Verhältnissen gebildet hatten, und hat diesen [793] dadurch die Möglichkeit einer weltgeschichtlichen Wirkung gewährt.

Aber allerdings hat sich die Masse der Athener gegen die neuen Ideen durchaus ablehnend verhalten. Von ihrem Subjektivismus und Skeptizismus wollte sie nichts wissen, und mit Entrüstung wies sie ihre ethischen und religiösen Konsequenzen von sich. Für das athenische Volk als Ganzes bleiben seine Götter noch lange lebendige Mächte, von denen es nicht lassen konnte und deren segensreiche Wirksamkeit es fühlte; es glaubte an die sittliche Weltordnung, an die Bürgertugend und die Heiligkeit des Staats, und von seinen Führern verlangte es das Bekenntnis zu der Religion und der Sitte der Vorfahren so gut wie das zur Demokratie. Beschäftigen mochte man sich immerhin mit den neu auftauchenden Problemen; mit Vergnügen sah man sie im Theater vorgeführt und erörtert. Aber auch hier verlangte man den Sieg oder wenigstens die Rechtfertigung der guten Sache; und als Euripides es wagte, die Gemahlin des Theseus, die kretische Königstochter Phädra, als gemeine Buhlerin auf die Bühne zu bringen, die sich ihrem Stiefsohn offen anträgt und Scham und Sitte gröblich verletzt (in der ersten Bearbeitung seines »Hippolytos«, spätestens etwa um 435), da gab es einen Theaterskandal. Zur Übung der Geisteskräfte waren die modernen Ideen ganz brauchbar; aber erliegen durfte man ihnen nicht, noch sich dadurch von den wahren, ernsthaften Aufgaben des Lebens ablenken lassen. »Wir streben nach dem Schönen ohne Verschwendung und nach Erkenntnis, ohne uns zu verweichlichen (φιλοκαλοῦμεν μετ᾽ εὐτελείας καὶ φιλοσοφοῦμεν ἄνευ μαλακίας)«, sagt Perikles bei Thukydides. Aber trotzdem ist binnen kurzem ganz Athen von den neuen Ideen infiziert, der altgläubige Demos so gut wie die vornehmen Reaktionäre. Noch deutlicher vielleicht als Politik und Tragödie offenbart das die Komödie des Aristophanes, auch hierin als echte Karikatur zugleich das echte Spiegelbild des attischen Volks. Sie bekämpft den neuen Glauben oder Unglauben, aber sie ist selbst auf seinem Boden erwachsen und ohne ihn gar nicht denkbar, so wenig wie der Mann, der trotz all ihrer Angriffe im Grund doch hierin ihr Gesinnungsgenosse gewesen ist, Sokrates, der den neuen[794] Geist eben dadurch überwunden hat, daß er die großen Gedanken, in denen er wurzelt, bis zum Ende fortbildet.

Der große Prophet der modernen Ideen ist Euripides gewesen. Wie Sophokles die alte, so verkörpert er die neue Zeit in seinen Dichtungen; mit seinen Worten haben wir zumeist die Gedanken, die sie bewegen, darstellen können. Zwischen seiner Geburt und der des Sophokles liegen nicht mehr als anderthalb Jahrzehnte, dreizehn Jahre nach diesem, 455 v. Chr., hat er seine erste Tetralogie aufgeführt, gestorben ist er 406, wenige Monate vor dem greisen Rivalen. Aber zwischen beiden liegt eine Welt; der Unterschied der Denkweise wie der äußeren und inneren Gestaltung des Kunstwerks ist so gewaltig, daß es kaum gelingen will, die Tatsache dem Bewußtsein wirklich lebendig zu machen, daß Antigone (441) und Alkestis (438), Ödipus (um 430) und Medea (431) und Hippolytos (428), und andererseits Sophokles' Philoktet (409) und Euripides' Orestes (408) Schöpfungen derselben Jahre sind. Euripides ist spätestens um 480 geboren; der Freiheitskrieg, der für Äschylos den Höhepunkt seines Lebens, für Sophokles den entscheidenden Jugendeindruck bildete, gehörte für ihn bereits der Vergangenheit an. Herangewachsen ist er unter den Eindrücken des inneren Haders in Athen, des Sturzes des Themistokles, des Kampfes zwischen Perikles und Kimon, der Begründung der radikalen Demokratie; seine militärischen Pflichten hat er erfüllt in den Jahren, als Athen wohl auch noch gegen Persien, aber in erster Linie gegen seine hellenischen Gegner kämpfte. Seiner Heimat war er von Herzen ergeben, und oft hat er sie und ihre Verfassung in seinen Dramen verherrlicht. Aber während Sophokles, ein reicher Mann aus der Vorstadt, im Staat eine hervorragende Rolle spielte, hat Euripides, dem Mittelstand angehörig und auf dem Bauerngut seines Vaters auf Salamis aufgewachsen, sich zeitlebens von politischer Tätigkeit ferngehalten; wo er in seinen Dramen auf politische und militärische Tagesfragen anspielt (z.B. in der »Andromache«, dem »Herakles«, der »Elektra«, auch in den »Hiketiden«), erhebt er sich kaum über das Urteil und die Stimmungen der Menge. Nur von der radikalen Demokratie hat er sich, als seit dem Nikiasfrieden ihre Gebrechen immer handgreiflicher hervortraten, mit [795] wachsender Entschiedenheit abgewandt. Aber auch darin folgt er mehr der Strömung, welche von da an unter den Gebildeten die Oberhand gewann, als daß er selbständig die Führung in dem Wandel der Anschauungen übernommen hätte. Sein ganzes Leben ist seiner Kunst geweiht, den Musen und Chariten, und zugleich, was für ihn davon unzertrennlich ist, der Weisheit, dem Streben nach Erkenntnis. So finden wir bei ihm die Einwirkung zahlreicher Philosophen, des Archelaos und Anaxagoras, die seine Lehrer gewesen sein sollen, des Protagoras, des Heraklit, des Xenophanes, ebenso die der Sprüche Epicharms (o. S. 618); nicht selten werden ihre Sätze direkt zitiert und paraphrasiert. Aber der Dichter ist ein durchaus selbständiger Geist, so gut wie Äschylos und Pindar oder wie früher Hesiod und Stesichoros, und viel mehr als etwa Sophokles. Das Wesentliche ist überall das, was er selbst gedacht, empfunden, beobachtet hat; durch die eigene geistige Arbeit wird er empfänglich für die Aufnahme der fremden Ideen. Auch in ihm offenbart sich die Eigenart und Selbständigkeit Athens. Dem alten Rationalismus hat er gelegentlich Worte geliehen, aber zumeist nur im Munde untergeordneter Persönlichkeiten, deren Ansichten der Dichter verwirft. Er liegt eben innerlich tief unter dem Standpunkt, den Athen gewonnen hat; höchstens Äußerlichkeiten mag er erklären, das eigentliche Problem löst er nirgends, ja er kennt es überhaupt nicht. Ebenso fern liegt dem Dichter ein Eingehen auf die kosmischen und physischen Probleme, die in den Anfängen der Philosophie im Mittelpunkt des Interesses standen. Zwar die Lehre, daß die Götter der Volksreligion, soweit ihnen überhaupt etwas Reales zugrunde liegt, entweder Verkörperungen sinnlicher Triebe sind, oder physische Kräfte und Naturerscheinungen, Zeus der Äther, Hestia oder Demeter die Erde, Apollon die Sonne, hat er übernommen und wiederholt ausgesprochen; aus dem leichten geistigen Äther und der empfangenden Erde gehen durch Mischung alle Wesen hervor, und wenn sie zerfallen, kehren sie in ihre Elemente zurück (fr. 839). Aber von dem »falschen Trug der Himmelsforscher« (μετεωρολόγων σκολιαὶ ἀπάται, fr. 193) will er nichts wissen. Durchaus und ausschließlich stehen für ihn wie für ganz Athen die Probleme des menschlichen Daseins, [796] des Staats und der Gesellschaft im Mittelpunkt; sie allein sind wert, immer aufs neue das Denken des Menschen zu beschäftigen948.

Und hier offenbart Euripides wie kein anderer die innere Zerrissenheit des modernen Denkens. Nur das Problem kann der Mensch erkennen, die Lösung ist ihm versagt. Alles hat zwei Seiten, es läßt sich vom entgegengesetzten Standpunkt aus betrachten, und daher auch Entgegengesetztes sich behaupten und rechtfertigen; Gewißheit gibt es nicht. Auch bei Euripides kommt es vor, daß er die Götter (d.h. die Gottheit, im Sinn von o. S. 777f.) und ihr Regiment rechtfertigt, die Macht des Rechts schildert, der Dike, der Tochter des Zeus, die gewaltig auf Erden schaltet und sicher den Schuldigen packt, auch wenn sie zu säumen scheint. Derartige Stellen, wo der Dichter fast redet wie ein Altgläubiger, sind keineswegs lediglich daraus zu erklären, daß er der Überlieferung folgt oder dem Publikum Konzessionen macht. Aber es ist nur die eine Seite der Weltbetrachtung, nur ein Lösungsversuch, der in manchen Fällen zu genügen scheint, in anderen aber vollkommen versagt. Wahrhafte Götter sind ihm die Gestalten des Volksglaubens niemals; »die Götter«, »die göttlichen Dinge«, »der Dämon« sind ihm nur ein populärer Ausdruck für das Schicksal, für die unerbittliche Notwendigkeit (χρεών, ἀνάγκη, auch δαιμόνιον, μοῖρα ϑεόϑεν, τύχη). Ob es überhaupt einen Gott gibt, ein höchstes bedürfnisloses und absolut vollkommenes Wesen, das hoch über Welt und Menschen schwebt, wer weiß es (Herakles 1345; vgl. Troad. 884ff. u.a.)? Auch dem Gedanken Heraklits hat er nachgehangen, »ob nicht das Leben Sterben, das was wir Sterben nennen, Leben ist«, ob es nicht ein höheres, wahres Leben ohne Krankheit und Böses gibt (fr. 833. 638). Aber auch das ist nur ein Spiel der Phantasie, das weit hinausgeht über das, was wir zu erkennen vermögen, geschweige denn, daß es sich zu einem beseligenden Glauben zu verdichten vermöchte, so wenig wie der andere, den Volksglauben (o. S. 750) fortbildende Gedanke, der in späteren Dichtungen ausgesprochen wird, daß der νοῦς, das [797] Denkvermögen in uns, der Gott oder Zeus ist (Troad. 886. fr. 1018), der im Tode seine Persönlichkeit verliert und in sein Element, den Äther, zurückkehrt (Helena 1014ff.). Ob es ein Leben im Hades gibt, wer weiß es? Kaum ist es zu wünschen, wenn man die Sorgen mit hinabschleppt, die den Menschen auf Erden quälen (Heraklid. 592ff.). Vielmehr mit dem Tod ist es aus, der Mensch löst sich auf in seine Elemente, nur seine Taten überleben ihn – was bringt ihm das aber für Gewinn? Mitten ins Leben ist der Mensch hineingestellt, von allen Seiten dringen die Mächte auf ihn ein, gegen die er sich behaupten soll. Zwei hohe Güter können ihm zuteil werden: Einsicht und Tugend. Aber ob er sie erwerben und bewähren kann, hängt nicht allein von seinem Willen ab. Er ist schwach, ein Geschöpf der Umstände, der Lebensstellung, beeinflußbar und unfrei; »auch wenn er das Gute erkennt, folgt er ihm nicht« (fr. 801, vgl. 220). Das ausschlaggebende Moment in seinem Innern ist sein angeborener Charakter, der im wesentlichen, wenn auch nicht immer, durch seine Abstammung bedingt ist (o. S. 788). Der Tüchtige wird seinem Naturell folgen und die Tugend nicht preisgeben um schnöden Gewinnes willen oder wenn die Not ihn packt. Aber die Schlechten folgen nicht minder ihrer Natur, und ihrer ist die Überzahl. Wohl ereilt sie nicht selten die Strafe, in die sie durch eigene Verblendung sich verstricken, so daß es scheinen kann, als walte ein gerechter Gott; aber ebenso oft trifft das Verderben den Schuldlosen und Tugendhaften. Auch die Einsicht gibt keinen sicheren Leitstern, selbst wenn sie der Stimme des Gewissens folgt und nicht durch ihre Geschicklichkeit sich verleiten läßt, die Wahrheit und das Recht zu beugen. Denn in jeder Lebenslage, bei jedem Entschluß drängen sich die Möglichkeiten; wer kann sagen, ob man das Richtige gewählt, und wenn man es gewählt hat, ob das Schicksal es nicht zum Bösen wendet? Wohl muß der Verständige das Leben nehmen wie es ist und sich durch kein Geschick überraschen lassen, da er weiß, daß es töricht ist für den Menschen, ewiges Glück zu fordern; indessen dadurch wird das Leben zwar viel leicht erträglicher, aber nicht besser. Der Trost des Sophokles, der vor den Rätseln und Nöten des Lebens in den Glauben, in die Hingebung in den heiligen Willen der Götter [798] sich flüchtet, ist dem Sohn der modernen Zeit versagt. Frivole Naturen mögen das leicht tragen, sie mögen das Leben als ein keckes Spiel betrachten, in dem Gewandtheit und gewissenlose Verwegenheit reichen Gewinn verheißt; eine ernste und sittliche Natur wie Euripides bricht fast zusammen unter der Last der Probleme, deren volle Wucht sie empfindet. Nur die Hoffnung bleibt, die immer aufs neue den Menschen erhebt und belebt; aber auch sie ist trügerisch und eitel. So ist die Grundstimmung des Lebens, die all seine Dichtungen durchdringt, eine schrille Dissonanz. Mag er wieder einmal froheren Stimmungen Raum geben, mag er sich aufrichten an der Schaffensfreude, an der Kunst, der er sein Leben geweiht hat, bei ihm ist wirklich, sehr anders als bei Sophokles und Herodot, ein hoffnungsloser Pessimismus der Grundton seiner Dichtung und das Ergebnis alles Denkens und Grübelns. Das Leben ist schal und eitel und des Lebens nicht wert. Und dennoch – es wäre feige und es wäre eines weisen Mannes nicht würdig, es aus eigenem Entschluß wegzuwerfen (o. S. 790). Er soll ausharren, dulden und schaffen, so lange er es vermag, bis die Ruhe des Todes, das Nichtsein, die Erlösung bringt.

Besäßen wir Dramen aus der Entwicklungszeit des Euripides, den ersten siebzehn Jahren seines Schaffens, wären nicht auch aus der folgenden Zeit mehrere seiner bedeutendsten Schöpfungen verloren, stände für die erhaltenen die Chronologie überall fest, wir würden sicherer über seinen Entwicklungsgang urteilen, die Einwirkung fremder Gedanken, die Fortbildung der eigenen Ideen genauer darlegen können. Aber auch so sind wir bei ihm viel besser unterrichtet als bei Sophokles. Achtzehn seiner Stücke aus den Jahren 438 (Alkestis) bis 406 (Bakchen, Aulische Iphigenie) sind uns erhalten, von vielen anderen besitzen wir bedeutende Fragmente, die Aufführungszeit der meisten Dramen ist wenigstens annähernd zu ermitteln. Von der Fortbildung seiner Kunst, seines dramatischen Stils wird später noch die Rede sein. Hier schreitet er ständig weiter in der Richtung, die er eingeschlagen hat, schöpferisch bis zuletzt; aber seine Weise führt ihn zur vollen Zersetzung, zur inneren Auflösung der Tragödie. In seinem Denken und Empfinden bricht der Pessimismus stets mächtiger hervor. Äußere Einwirkungen [799] haben ihn gesteigert, der Niedergang Athens, die innere Zersetzung des politischen Lebens, der Mangel an äußerem Erfolg, die Anfeindungen, denen er ausgesetzt war, der Druck des hereinbrechenden Greisenalters, und nicht am wenigsten der ständig wachsende Einfluß der Lehren der Sophistik, zu denen er sich bekannte. Die Ideale, an denen er noch im Mannesalter gehangen hat, die in seinem Gemüt lebendig waren, mochte auch im Verstand der Skeptizismus sich regen, brachen zusammen, der Glaube an die Herrlichkeit seines Staats und an die Größe der Demokratie. Immer trüber wird seine Stimmung, immer finsterer seine Auffassung der Menschen und des Lebens. Aber schon in den Resten seiner ältesten Dramen ist seine Art, seine Gestaltung der Fabel, die Neigung, das Problem von den entgegengesetzten Seiten zu behandeln und dadurch den Sagenstoff innerlich aufzuheben, die Vorliebe für Sentenzen voll entwickelt. Das Wesentliche bleibt doch immer, was er selbst getan hat, die Eigenart seines Geistes, in der er selbst den Kern des Menschen erkennt. Der Himmelsstürmer Bellerophontes, der die Götter zur Verantwortung ziehen will für ihr Tun, der ihr Dasein leugnet, weil sie die Welt nicht regieren wie sie sollten, ist er selbst. Das Flügelroß, mit dem er in den Olymp dringen will, wirft ihn ab, elend und verstümmelt stürzt er auf die Erde. Das Schicksal hat ihn zerschmettert, doch er darf und will nicht klagen. Das ist das Geschick des Menschen; die Erkenntnis ist nur für die Götter. Aber voll Stolz darf er im Sterben aussprechen, daß er die Tugend geübt hat im Leben, »fromm gegen die Götter« – denn er dachte besser von ihnen als der Pöbel –, »den Fremden hilfreich, für die Freunde tätig«. Auf der Höhe seines Lebens und Schaffens, im Jahr 428, hat Euripides im »Hippolytos« der inneren Qual, die seine Brust durchwühlte, dem Zwang, daß er denken muß und nicht glauben kann, auch wenn er möchte, ergreifenden Ausdruck verliehen. »Freilich, wenn ich den Gedanken an ein Walten der Götter fasse, nimmt er die Qual hinweg; aber der Wunsch, eine Vernunft in der Welt zu finden, versagt, wenn ich der Menschen Geschick und Taten betrachte. Denn ununterbrochen wandelt sich alles, in stetem Wechsel verläuft rastlos der Menschen Leben. Möge mir, so bete ich, das Schicksal ein [800] freundliches Los gewähren, in Wohlstand und ohne Schmerzen; weder die reine Wahrheit möchte ich besitzen noch falsch gemünzte Meinung, glücklich möchte ich durchs Leben wandeln, leichten Sinnes nehmend, was immer der morgige Tag bringt.« Hinaus möchte er in die Schluchten der Felsen, über das weite Meer, als Vogel fliegen zum fernsten Westen, zu den Gärten der Hesperiden, zum seligen Leben, hinweg aus dieser Welt und ihrer Qual (Hippol. 733ff.). So begreift man, daß gelegentlich die Reaktion gegen seine eigenen Ansichten bei ihm selbst durchbricht. Im Jahr 412 hat er eine »Helena« auf die Bühne gebracht, welche in engem Anschluß an Stesichoros die vielgeschmähte Heldin und damit auch das göttliche Walten rechtfertigt – nicht sie selbst war in Troja, sondern nur ein Trugbild. »Was Gott ist und Nichtgott und zwischen beiden«, singt da der Chor, »welcher Mensch kann es zu Ende erforschen und künden, der das Geschick (τὰ ϑεῶν) hierhin und dorthin und wieder zurückspringen sieht in unerwarteter Wendung ... Nichts ist sicher, was die Menschen wähnen; der Götter Wort aber erfand ich wahr.« Das ist eine vorübergehende Auffassung, wenngleich es ungemein bezeichnend ist, daß die Stesichoreische Behandlung ihn reizen konnte; wenige Jahre später, im »Orestes« (408), ist Helena auch ihm wieder die kokette Buhlerin. Aber als er, fern von der Heimat am Hofe des makedonischen Königs, in der Mitte der Siebziger, das letzte und zugleich eins der gewaltigsten seiner Werke, die Bakchen, schuf, da kam die Reaktion zum vollen Durchbruch. Nicht daß er seine alte Stellung zu den Göttern verleugnet hätte: Dionysos ist ein so arger Frevler, ist so unsittlich wie nur irgendeiner, an den die Menge glaubt, und die Verstandesgründe, mit denen Tiresias, der Rationalist, seine Verehrung rechtfertigt, will Euripides keineswegs vertreten. Aber da dem Menschen einmal jede Erkenntnis versagt ist, soll er sich dem fügen, was nun einmal überliefert und seinem Volk heiliger Brauch ist. »Was wir weise ausklügeln, ist nicht Weisheit, noch was wir denken über sterbliche Art hinaus. Kurz ist das Leben; wer da hohe Ziele verfolgt, wird, was es bringt, nicht tragen können. Das ist die Art Rasender und übel Beratener nach meinem Urteil ... Halte weise Sinn und Gedanken fern von [801] den übergescheiten Männern; was die schlichte Menge für Recht hält und übt, das will ich annehmen« (395ff.). »Leichte Mühe ist es, das für gültig zu halten, was immer das Göttliche sein mag, und was allezeit galt und die Natur geschaffen hat« (893ff.). So mag der Weise sich gläubig auch dem rauschenden Taumel des Dionysos hingeben und in ihm momentan wenn nicht den Frieden, so doch die Betäubung finden, nach der seine Seele lechzt949. Es ist wohl kaum zweifelhaft, daß bei längerem Leben auch die entgegengesetzte Stimmung wieder zum vollen Ausdruck gelangt wäre; so aber klingt auch seine Dichtung aus in dieselbe grelle Dissonanz, die sein ganzes Leben und Schaffen beherrscht.

Euripides ist ein hochbegabter Dichter von bedeutender Gestaltungskraft. Die Technik der Bühne beherrscht er ebenso vollkommen wie die der Metrik und der Musik. Wo er nur seiner Kunst folgt, ist er ein Meister der Charakteristik und der Schürzung und Lösung der dramatischen Verwicklung; er hat in die Tiefen des menschlichen Herzens und der menschlichen Empfindung geschaut, und sowohl im Dialog wie in der Erzählung und Schilderung des Botenberichts und gelegentlich auch im Lied vermag er die höchste und ergreifendste Wirkung zu erzielen. Aber zugleich ist er durchdrungen von dem Bewußtsein jedes echten Dichters und des Dramatikers zumal, berufen zu sein zum Lehrer seines Volks; und gerade darin, daß er diese Aufgabe mit vollem Ernste erfaßt, liegt das Verhängnis seiner Kunst. Den ganzen Zwiespalt in seiner Brust, die innere Zerrissenheit seines Denkens trägt er mit voller Absicht hinein in seine Schöpfungen, in das Ganze wie in jedes Einzelne. Er will sittlich und erzieherisch wirken, aber diese Wirkung gipfelt in der Negation, in dem Zweifel an allem, was besteht und was der Zuschauer glaubt und für heilig hält; so kann er ihn nicht erbauen und in eine höhere Welt erheben, wie Äschylos und Sophokles, sondern er reißt ihn zu sich [802] in die Verwirrung und in die Qual. Die alten Ideale schlägt er zu Boden; ein neues vermag er nicht aufzurichten, so gern er möchte. Den Stoff entnimmt er der Sage; daß er sie modernisiert, daß er die Menschen und Probleme der Gegenwart hineinträgt, ist sein Dichterrecht, das seine Vorgänger und sein Rivale Sophokles so gut geübt haben wie jeder Dichter, der eine breite Wirkung erzielen will. Aber er geht weiter. Die Sinnlosigkeit des Mythus will er zeigen, die Nichtswürdigkeit der Götter, an die das Volk glaubt, an den Pranger stellen: die Taten, die die Sage und die ältere Tragödie verherrlicht, sind Verbrechen oder Absurditäten. So hebt er selbst die Voraussetzungen auf, auf denen das Stück beruht: es wird, soweit es einen mythischen Inhalt hat, innerlich unmöglich, und das soll der Zuschauer empfinden. Der Sagenstoff ist nur das Vehikel für das ganz moderne Problem des Dichters; die Personen, die unter dem Namen der alten Heroen auftreten, sind keine Idealgestalten, zu denen der Mensch in seinen Nöten aufblicken, denen er nachstreben kann, sondern schwache gebrechliche Wesen wie die modernen Menschen selbst, hin und her getrieben von ihren Leidenschaften und Torheiten und von dem Geschick, das blind über sie hereinbricht. Überall ist dem Dichter das Lehren, das Aussprechen dessen, was ihm auf der Seele liegt, doch die Hauptsache. Er ist ein scharfer Beobachter des Menschen und ein Meister im Nachbilden der Charaktere; aber wo immer eine Gelegenheit sich bietet, eine allgemeine Betrachtung, eine Sentenz anzubringen, da wird sie ergriffen, mag sie in dieser Situation, im Mund dieser Person dramatisch noch so unmöglich sein. Keines seiner Stücke ist frei von Stellen, wo die Gestalten vollkommen aus der Rolle fallen, wo (ganz abgesehen von den Chören) der Dichter zum Publikum redet, nicht die dargestellte Person. Das wird noch gesteigert durch das Dominieren des Verstandes, das ihn wie die ganze moderne Zeit charakterisiert. Er ist stolz auf sein Denken, auf seine geistige Superiorität, und er will sie zeigen, so gut wie der Sophist in seinen Prunkreden. Daher die vielen pointierten und spitzfindigen Reden; daher auch das Gesuchte und Überspannte in den Situationen und Problemen, das Haschen nach dem Paradoxen; nur zu oft ist ihm das Einfache [803] zu einfach, und er greift zum Unnatürlichen. So gelingt ihm, trotz aller poetischen Schönheit im einzelnen, kaum je eine reine Wirkung; fast in jedem Stück wird der Eindruck getrübt, nicht selten völlig zerstört, durch Stellen und ganze Szenen, die jeder unbefangene Leser wegwünschen muß. Je weiter wir hinabgehen, desto mehr herrscht die Manier, desto elender und erbärmlicher werden die Menschen, desto moderner die Behandlung der Probleme; nur in den »Bakchen« weht, der ganz veränderten Auffassung entsprechend, noch einmal wieder etwas von dem Geist der alten Dichtung des Äschylos. So vollzieht sich bei Euripides die Selbstzersetzung der Tragödie. Was übrigbleibt, ist das bürgerliche Trauerspiel, das durch den Prolog und durch den Maschinengott am Schluß notdürftig eingerenkt wird in den Zusammenhang der Sage, mit dem es innerlich gar nichts mehr zu tun hat (vgl. u. S. 828).

So ist es begreiflich, daß Euripides sein Leben lang auf den stärksten Widerspruch gestoßen ist. Unablässig bekämpft und höhnt ihn die Komödie, bis über den Tod hinaus, und das Volk von Athen hat ihm die Anerkennung geweigert. Nur viermal hat er den Preis erhalten, zum ersten Male im Jahr 441 (Chron. Par.) – damals muß er, merkwürdig genug, über die Tetralogie des Sophokles gesiegt haben, zu der die »Antigone« gehört. Ästhetische und ethische Gründe wirkten zusammen: man sah in ihm mit vollem Recht den Zerstörer der Tragödie wie den Vorkämpfer der modernen Bildung, die Zucht und Glauben untergräbt. Dabei lebt in dem Dichter ein brennender Ehrgeiz, das lebendigste Streben nach Anerkennung, nach Sieg. Daß es so wenig Befriedigung fand, hat zu der verbitterten Stimmung seiner späteren Dramen ganz wesentlich beigetragen und soll schließlich der Anlaß gewesen sein, daß er im Jahr 407 der Einladung des Königs Archelaos nach Makedonien Folge leistete. Und doch zeigt gerade die unablässige Bekämpfung des Euripides, wie gewaltig seine Wirkung gewesen ist. So sehr man sich sträubte, so stark das Gefühl des Unbefriedigten und oft des Unerquicklichen war, er zog doch alle in seinen Bann. Mochte man versuchen, die Fragen zu vergessen, die er aufwarf, sie waren einmal in der Welt und ließen den Hörer nicht los, so wenig wie der Zauber seiner Worte und [804] seiner Melodien, so heftig auch diese von der alten Schule bekämpft wurden. Gerade die Stellen, die ästhetisch am bedenklichsten waren, die überraschenden Wendungen, die neuen und fremdartigen Erfindungen, die Pointen und Sentenzen fesselten ein geistig angeregtes Publikum, dem all diese Situationen tagtäglich entgegentraten, das wie das athenische das lebhafteste Interesse an Diskussionen, an der Kunst gewandter Rede, anzündenden Schlagworten zeigte. Seine Sprüche und viele seiner Lieder waren in aller Munde: war es doch im Grunde der eigene Geist, den man in seinen Versen wiederfand. Die jüngere Generation der Tragiker folgte ganz seinen Spuren, voran Agathon, der bedeutendste und effektvollste, der im Jahr 416 bei seinem ersten Auftreten sofort den Preis gewann. Auch in den späteren Stücken des Sophokles tritt sein Einfluß nicht nur in Einzelheiten hervor: er hat z.B. den Euripideischen Prolog in den »Trachinierinnen«, den Maschinengott im »Philoktet« übernommen, und beide Stücke im Wetteifer und unter starkem Einfluß älterer Euripideischer Bearbeitungen desselben Stoffs gedichtet. Für die nächste Generation und für die ganze spätere Zeit ist Euripides der Tragiker schlechthin, das allbeherrschende Vorbild. Doch in seiner Wirkung auf die Kunst ist immer nur ein Teil seiner Bedeutung umschlossen; sie ist nur ein Bruchteil der universellen Wirkung, welche er auf das gesamte Kulturleben des griechischen Volks ausgeübt hat. Kein Mensch, auch keiner der Sophisten, hat so viel dazu beigetragen wie er, die alte Weltanschauung auch in ihrer letzten Gestalt, in der Sophokles und seine Zeit sie festzuhalten suchten, zu stürzen und zu vernichten, so daß sie in der kurzen Spanne einer Generation hinabsinkt in eine ferne, unwiederbringliche Vergangenheit, und Raum zu schaffen für eine neue, für die moderne Denkweise und Kultur.

Wir stehen am zweiten und für alle Zukunft entscheidenden Wendepunkt der geistigen Entwicklung von Hellas. Ehe wir weitergehen, müssen wir zurückgreifend die großen Schöpfungen der Kunst und Literatur im einzelnen betrachten, um zu erkennen, wie auch hier überall aus dem Boden des Altüberkommenen die neuen Probleme hervorbrechen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 792-806.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anonym

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Das chinesische Lebensbuch über das Geheimnis der Goldenen Blüte wird seit dem achten Jahrhundert mündlich überliefert. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Richard Wilhelm.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon