Krümmung

[716] Krümmung, die Abweichung einer Kurve von der Geraden bezw. einer Fläche von der Ebene.

A. Krümmung der ebenen Kurven. Absolute Krümmung σ eines Bogens von der Länge s ist der Winkel seiner Tangenten in den Endpunkten; σ/s heißt mittlere Krümmung. Wird der Bogen unendlich klein, so heißt der Grenzwert, gegen den die mittlere Krümmung konvergiert, Krümmung (Krümmungsmaß); derselbe ist ds/dσ, wo ds das Bogendifferential, der Kontingenzwinkel, d.h. der Winkel zweier aufeinander folgenden Tangenten.

Ist y = f (x) die Kurvengleichung, so ist die Krümmung y''/(1 + y'2)3/2. Der reziproke Wert der Krümmung (1 + y'2)3/2/y'' heißt Krümmungsradius; er ist der Radius des Krümmungskreises, der die Kurve in (x, y) oskuliert. Sein Mittelpunkt, das Krümmungszentrum, liegt auf[716] der Normale im Punkt (x – (1 – y'2)y'/y'', y + (1 + y'2)/y''). Der Ort der Krümmungszentra ist die Evolute. Krümmungsradius der in Polarkoordinaten gegebenen Kurve r = f (φ) ist


Krümmung

B. Krümmung der Raumkurven. Raumkurve, gegeben durch die Gleichungen x = φ (t), y = ψ (t), z = χ (t). Absolute Krümmung ist das Verhältnis des Kontingenzwinkels zum Bogendifferential. Der Radius der absoluten Krümmung ist


Krümmung

Derselbe ist Radius des Krümmungskreises, weicher die Raumkurve oskuliert und dessen Zentrum in der Hauptnormale liegt. Die Normale der Schmiegungsebene im Krümmungszentrum heißt Krümmungsachse; sie ist die Schnittlinie zweier aufeinander folgenden Normalebenen. Die Krümmungsachsen erzeugen die abwickelbare Polarfläche. Der Winkel zweier konsekutiven Schmiegungsebenen heißt Torsionswinkel dτ. Das Verhältnis 1/φ = dτ/ds heißt Torsion (zweite Krümmung oder Windung); der Torsionsradius ist ρ = X2 + Y2 + Z2/M, wo X, Y, Z die Determinanten der Matrix


Krümmung

und M = X d3 x + Y d3 y + Z d3 z. Aus der absoluten Krümmung und der Torsion ergibt sich die ganze Krümmung 1/R mittels des Satzes von Lancret: 1/R2 = 1/r2 + 1/ρ2. Der Schmiegungskegel wird durch drei aufeinander folgende Schmiegungsebenen bestimmt; er hat die rektifizierende Gerade zur Achse. Die Kugel durch vier aufeinander folgende Punkte heißt Schmiegungskugel (Krümmungskugel); ihr Radius ist


Krümmung

Die Zentra der Schmiegungskugeln bilden die Rückkehrkante der abwickelbaren Polarfläche. Krümmungsebene heißt eine Ebene durch einen Raumkurvenpunkt, welche mit drei konsekutiven Schmiegungsebenen denselben Winkel einschließt (Krümmungswinkel).

C. Krümmung der Flächen. Geht durch eine Flächentangente ein ebener Normalschnitt (Schnitt durch die Flächennormale) und ein schiefer Schnitt, so ist der Krümmungshalbmesser des letzteren gleich der Projektion des Krümmungsradius des Normalschnitts auf die Ebene des schiefen Schnitts (Satz von Meunier). Eine parallel zur Tangentialebene unendlich benachbarte Ebene schneidet die Fläche in einem unendlich kleinen Kegelschnitt, der sogenannten Indicatrix. Nach dem Eulerschen Satz sind die Krümmungsradien der Normalschnitte den Quadraten der Durchmesser der Indicatrix proportional, die sie enthalten. Die Indicatrix ist entweder eine Ellipse (Kreis) oder ein Parallelenpaar oder eine Hyperbel; demnach heißt die Fläche elliptisch, parabolisch, hyperbolisch gekrümmt. Im letzteren Fall existieren, parallel den Asymptoten der Indicatrix, zwei Normalschnitte mit unendlich großen Krümmungsradien. Ist die Indicatrix ein Kreis, so heißt der Punkt ein Nabelpunkt. Andernfalls hat die Indicatrix zwei Hauptachsen; ihnen entsprechen die zwei aufeinander senkrechten Hauptschnitte. Diese besitzen die beiden Hauptkrümmungsradien, und deren reziproke Werte sind die Hauptkrümmungen 1/ρ1 und 1/ρ2. Die letzteren ergeben sich aus der Gleichung:


Krümmung

Hieraus folgt 1/ρ1ρ2 = rt – s2/(p2 + q2 + 1)2 das Krümmungsmaß;


Krümmung

ist die mittlere Krümmung. Durch jeden Kurvenpunkt gehen in der Richtung der Hauptschnitte zwei Krümmungslinien, d.h. Flächenkurven, deren benachbarte Normale sich treffen. Die Krümmungsmittelpunkte der Hauptschnitte liegen auf einer zweimanteligen Fläche, der Krümmungszentrafläche. Konstantes positives Krümmungsmaß besitzt die Kugel, konstantes negatives die Pseudosphäre (Kugel von imaginärem Radius) und die Umdrehungsfläche der Tractrix. Flächen, deren mittlere Krümmung Null ist, heißen Minimalflächen. Radius der geodätischen Krümmung r in einem Punkt einer Flächenkurve ist der Krümmungsradius der Kurve, in welche die Flächenkurve bei Abwicklung der der Fläche längs der Kurve umbeschriebenen Abwickelbaren in eine Ebene übergeht. Ist ρ der Krümmungshalbmesser der Flächenkurve, ϑ die Neigung ihrer Schmiegungsebene gegen die Flächennormale, so ist r = ρ/sin ϑ.


Literatur: [1] Salmon, G., Analytische Geometrie des Raumes, deutsch von Fiedler, 3. Aufl., Leipzig 1880, 2. Teil, Kap. 1 und 2. – [2] Serret, Lehrbuch der Differential- und Integralrechnung, 2. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1897. – [3] Stahl, H., und Kommerell, V., Die Grundformeln der allgemeinen Flächentheorie, Leipzig 1893. – [4] Joachimsthal, Anwendungen der Differential- und Integralrechnung auf die allgemeine Theorie der Flächen und der Linien doppelter Krümmung, 3. Aufl., bearb. von Natani, Leipzig 1890. – [5] Knoblauch, J., Einleitung[717] in die allgemeine Theorie der krummen Flächen, Leipzig 1888. – [6] Hoppe, Prinzipien der Flächentheorie, 2. Aufl., Leipzig 1890. – [7] Darboux, Leçons sur la théorie générale des surfaces et les applications géométriques du calcul infinitésimal, Bd. 1–4, Paris 1887–96. – [8] Cranz, Synthetisch-geometrische Theorie der Krümmung von Kurven und Flächen zweiter Ordnung, Stuttgart 1886. – [9] Bianchi, L., Vorlesungen über Differentialgeometrie, deutsch von M. Lukat, I–III, Leipzig 1896–99. – [10] Lilienthal, v., Grundlagen einer Krümmungslehre der Kurvenscharen, Leipzig 1897. – [11] Cesàro, E., Vorlesungen über natürliche Geometrie, deutsch von Kowalewski, Leipzig 1901. – [12] Klein, F., Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf Geometrie, eine Revision der Prinzipien, Leipzig 1902. – [13] Scheffers, G., Anwendungen der Differential- und Integralrechnung auf Geometrie. I–II, Leipzig 1901–1902. – [14] Schell, W., Allgemeine Theorie der Kurven doppelter Krümmung in rein geometrischer Darstellung, 2. Aufl., Leipzig 1898.

Wölffing.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 5 Stuttgart, Leipzig 1907., S. 716-718.
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716 | 717 | 718
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