Reduktion [3]

[372] Reduktion der Winkelgeschwindigkeiten und der Kräfte am starren Körper. Der Geschwindigkeitszustand eines unveränderlichen Punktsystems (starren Körpers) ist im allgemeinen eine Windungsgeschwindigkeit, bestehend in einer Winkelgeschwindigkeit ω um die Momentanachse (s.d.) und einer Translationsgeschwindigkeit v0 parallel dieser. Diese Windungsgeschwindigkeit (ω1, v0) Hellt auf die einfachste Art den Geschwindigkeitszustand des Systems dar. Nun kann dieser aber ein zusammengesetzter sein, d.h. er kann aus einer gleichzeitigen Verbindung von irgendwelchen Winkel- und Translationsgeschwindigkeiten entspringen. Ist dies der Fall, so kann gefordert werden, die aus diesen resultierende Windungsgeschwindigkeit zu finden. Dieses Problem ist das Problem der Reduktion der Winkelgeschwindigkeiten. Seine Lösung verläuft durchaus ähnlich der Reduktion der Kräfte und Kräftesysteme, die in dem Art. Aequivalenz der Kräfte (Bd. 1, S. 86) auseinandergesetzt wurde. Vgl. a. Aequivalenz unendlich kleiner Drehungen und Schraubungen (Bd. 1, S. 85).

Da sich jede Translationsgeschwindigkeit als ein Paar von Winkelgeschwindigkeiten darstellen läßt (s. Rotation), so kann das Problem so gestellt werden: Es sind n Winkelgeschwindigkeiten ω1, ω2 ...ωn eines Systems um n Achsen a1, a2 ... an gegeben; man soll die aus ihnen resultierende Windungsgeschwindigkeit (ω0, v0) nach Größe und Achsenlage bestimmen. Trägt man auf jeder Achse ai die betreffende Winkelgeschwindigkeit ωi als Strecke auf, so kann dies Streckensystem zunächst auf mannigfache Art durch ein ihm äquivalentes dargestellt werden. Denn zieht man durch irgendeinen Punkt O des Systems mit jeder Achse ai eine Parallele und trägt auf ihr ωi und –ωi in entgegengesetztem Sinne auf, d.h. erteilt man dem Punktsystem um diese Parallele zwei entgegengesetzt gleiche Winkelgeschwindigkeiten ωi, so erhält man an Stelle der ωi um die verschiedenen Achsen ai das Aggregat aller ωi um die Parallelen des Punktes O in Verbindung mit einem Aggregat von Paaren i,ωi), deren Arme die von O auf die Achsen ai gefällten Perpendikel pi sind und deren Achsenmomente ωi pi Translationen senkrecht zu den Ebenen der Paare darstellen. Das Aggregat allerωi um die durch O geführten Parallelen zu den Achsen ai ist aber nach dem Polygon der Winkelgeschwindigkeiten äquivalent einer Winkelgeschwindigkeit ω = Σ [ωi] um eine bestimmte Achse μ, die Schlußlinie des Polygons und das zweite Aggregat aller ωi pi ist äquivalent einer Translationsgeschwindigkeit v = Σ [ωi pi], dargestellt durch die Schlußlinie v des Polygons der Achsenmomente ωi pi; v0 wird im allgemeinen geneigt sein gegen die Achse μ. Mit Hilfe der Theorie der Zentralachse (s.d.) des Streckensystems der ωi kann aber nun die dem System der ωi äquivalente Verbindung (ω, v) ersetzt werden durch die Winkelgeschwindigkeit ω um eine gewisse Achse μ0, parallel μ, in Verbindung mit der Translationsgeschwindigkeit v0 = v cos λ, wenn λ den Winkel (v, μ) bezeichnet, so daß (ω, v0) die gesuchte Windungsgeschwindigkeit um die Zentralachse der Winkelgeschwindigkeiten ωi, d.h. die gesuchte Reduktion dieser ωi darstellt. Die Zentralachse liegt in der Ebene, die durch μ senkrecht zur Ebene des Winkels λ gelegt werden kann, in einem solchen Abstande r von μ, so daß ω r = v sin λ wird. Von der Zentralachse, μ0 und der Reduktion (ω, v) für sie kann man alle andern Darstellungsweisen des Geschwindigkeitszustandes erhalten. Indem man mit dieser Achse im Abstande r eine Parallele μ zieht und dem System um diese die entgegengesetzten Winkelgeschwindigkeiten ω und –ω erteilt, überzeugt man sich leicht, daß der Geschwindigkeitszustand des Systems äquivalent ist der Winkelgeschwindigkeit ω = Σ [ωi] um μ in Verbindung mit einer Translationsgeschwindigkeit v = [v02 + r2ω2]1/2, geneigt gegen μ unter einem Winkel ψ, wofür tg ψ = ω/v0 r ist. Man erkennt leicht, daß v die Geschwindigkeit der Punkte der Achse μ ist. Man kann daher den Geschwindigkeitszustand des Systems darstellen durch eine Translationsgeschwindigkeit gleich der Geschwindigkeit v irgend eines Systempunktes in Verbindung mit der Winkelgeschwindigkeit ω = Σ [ωi] um eine durch den Punkt gehende, zur Zentralachse parallele Achse. Weitere Reduktionen des Geschwindigkeitszustandes auf zwei Winkelgeschwindigkeiten um zwei sich kreuzende Achsen, Konstruktionen der Zentralachse, die Bedeutung der Spezialfälle sowie der Zusammenhang des Komplexes ersten Grades, der von den sämtlichen Normalen der Bahnen der Systempunkte gebildet wird mit den Reduktionen, s. bei Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, 2. Aufl., Leipzig 1879, Bd. 1, S. 215–218. Das analoge Problem der Reduktion von n gleichzeitigen Beschleunigungszuständen auf einen resultierenden Beschleunigungszustand eines unveränderlichen Systems ist ungleich schwieriger als das hier behandelte der Reduktion von n Geschwindigkeitszuständen. Eine Lösung derselben ist für ebene Systeme und n = 2 gegeben worden von Wittenbauer: »Ueber den Beschleunigungspol der zusammengesetzten [372] Bewegung« in Schlömilchs Zeitschrift für Mathematik und Physik, Jahrgang 40, S. 151. bis 158.

(Schell) Finsterwalder.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 7 Stuttgart, Leipzig 1909., S. 372-373.
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