Doppelbewußtsein

[121] Doppelbewußtsein (franz. u. engl. Double conscience). Neben den in unserm »Oberbewußtsein« sich vollziehenden psychischen Prozessen, die mit dem den Ich-Begriff zusammensetzenden Symptomenkomplex in dauernder assoziativer Verknüpfung stehen, können sich noch andre psychische Vorgänge in uns abspielen, von denen unser bewußtes Ich nichts weiß, die aus der bewußten Ideenassoziation losgelöst, nicht willkürlich in die Erinnerung zurückgerufen und nicht der logischen Kritik unsers wachen Denkens unterworfen werden können. Diese dem »Unterbewußtsein« angehörigen Zustände laufen gewissermaßen als »geistige Sonderexistenzen« neben den bewußten einher, ohne sich mit ihnen assoziativ zu verknüpfen, treten aber mit frühern ähnlichen unterbewußten Prozessen in Verbindung und bilden mit ihnen gesonderte psychische Komplexe, die der Beleuchtung des normalen Ich-Bewußtseins entzogen sind. Man spricht in solchen Fällen von einer Spaltung der Psyche, einem zweiten Zustand, einem Doppel-Ich.

Ein normales Beispiel für die geschilderten eigenartigen Bewußtseinszustände ist in den Träumen des Nachtschlafes gegeben, die in uns nach dem Erwachen entweder gar keine oder nur eine oberflächliche Erinnerung hinterlassen, aber nach dem Wiedereinschlafen sich sofort in den angefangenen Bildern weiterspinnen. Während wir im Wachzustande den Traum »vergessen« haben, erscheint uns das wiederaufgenommene Traumbild als bekannt. – Den Träumen ähnliche Bewußtseinszustände können unter pathologischen Verhältnissen hervorgerufen werden durch starke seelische Erschütterungen (Schreck, Verletzungen, Unfälle, Gemütsbewegungen etc.). In diesen sogen. hypnoiden Zuständen geschehene Tatsachen lassen eine Erinnerung für unser Wachbewußtsein nicht zurück, wohl aber für das nächstfolgende Hypnoid. Besonders die hysterischen Anfälle sind geeignet, krankhafte Bewußtseinszustände zu schaffen, für die im Normalzustande jede Erinnerung fehlt. Bei öfterer Wiederkehr der Anfälle kann man aber beobachten, daß die Kranken während des Anfalls sich der Vorgänge der frühern Attacken bewußt werden und sie auch psychisch verwerten. Das Bewußtsein im Anfall ist ein von dem in der anfallsfreien Zeit vollkommen losgelöstes autonomes Gebiet. Hauptsächlich der im Gefolge des großen hysterischen Anfalles oder auch isoliert als hysterisches Symptom auftretende Somnambulismus zeigt die Charaktere des Doppelbewußtseins. In den somnambulen Zuständen[121] führen die Kranken komplizierte und scheinbar zweckmäßige Willkürhandlungen aus, für die in der normalen Bewußtseinsphase jede Erinnerung fehlt. Das ganze Wesen und Gebaren der Kranken ist in den einzelnen somnambulen Attacken oft auffallend ähnlich und das Krankhafte des Zustandes tritt deutlich hervor. Seltener erscheint der Kranke in seinem »zweiten Zustande« nicht wesentlich verändert, nur Charakter und Stimmung ist rätselhaft umgewandelt. Diese psychische Verwandlung kann wochen- und monatelang anhalten. Dem normalen Ich im Wachzustande steht dann ein krankhaft verändertes im Somnambulismus gegenüber, von dem das erstere nichts weiß (»Doppel-Ich«). Ähnliche abnorme Bewußtseinszustände beobachtet man auch bei der Epilepsie (psychische Äquivalente der Epilepsie), bei Alkoholvergiftung etc. Künstlich können sie geschaffen werden in der Hypnose. – In forensischer Beziehung spielen die doppelten Bewußtseinsphasen eine nicht zu unterschätzende Rolle, weil für sie der § 51 des Strafgesetzbuchs uneingeschränkt in Anwendung kommt. Die Roman- und Bühnenliteratur hat sich ihrer in etwas übertriebener Ausschmückung bemächtigt. Auch die »Traumzustände« der spiritistischen Medien sind, soweit sie nicht auf absichtlicher Täuschung beruhen, in die Kategorien des Doppelbewußtseins (spontaner Somnambulismus) zu verweisen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 121-122.
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