Somnambulismus

[594] Somnambulismus (lat., Somnambulie, das Wandeln im Schlaf), nach einigen ein gewöhnlicher Schlafzustand, in dem viele Bewegungen oder Handlungen vorkommen; nach andern jene durch den tierischen Magnetismus (s. Magnetische Kuren) herbeigeführten Zustände, in denen es zu anscheinend übernatürlichen Vorgängen (Hellsehen u. dgl.) kommt. Einige, z. B. Richet, bezeichnen mit S. die Hypnose, andre dagegen, z. B. Bernheim, jene hypnotischen Zustände, bei denen nach dem Erwachen die Erinnerung an das während der Hypnose Vorgefallene fehlt (vgl. Hypnotismus). Unter den Personen, die des Nachts im Schlafe vielfache Bewegungen vornehmen, unterscheidet man solche, die im Schlafe sprechen, solche, die im Bett alle möglichen Bewegungen machen, das Bett aber nicht verlassen, und solche, die das Bett verlassen, umhergehen und zahlreiche komplizierte Handlungen ausführen, die indes in dem Kreise sich abspielen, der der Beschäftigung dieser Personen oder wenigstens ihrem Gedankengang entspricht. Manche Somnambulen nehmen des Nachts Bücher aus dem Bücherregal, um darin zu lesen, andre schreiben des Nachts. Man hat von Somnambulen erzählt, die des Nachts an Wänden und auf Dächern herumklettern, und man hat geglaubt, daß der Mond diese Einwirkungen ausübe; man nannte deswegen solche Leute auch Mondsüchtige (Lunatische). Sicherlich kommt es vor, daß Schlafwandler oder Nachtwandler, ohne die Gefahr, in der sie schweben, zu erkennen, gefährliche Wege mit Sicherheit gehen. Diese Sicherheit rührt aber nicht von einer übernatürlichen Fähigkeit her; sie handeln automatisch, indem ihnen viele Sinneseindrücke nicht bewußt werden und sie daher die Gefahr nicht sehen. Daß aber Somnambule trotzdem mitunter bei ihren gefährlichen Wanderungen verunglücken,[594] ist zweifellos. Spontanes Erwachen während dieser Wanderungen kommt selten vor. Ein Anruf wird meistens nicht beachtet, der Betreffende führt automatisch seine Handlung weiter aus und geht dann wieder zu Bett. Nach dem Erwachen fehlt die Erinnerung, bisweilen glaubt allerdings der Betreffende nach dem Erwachen, geträumt zu haben, was er in Wirklichkeit ausgeführt hat. Die zweite Bedeutung von S. bezieht sich auf Zustände, die man durch Magnetisierung (s. Magnetische Kuren) erreichen will. Solche Personen werden angeblich hellsehend, und zwar soll das räumliche und zeitliche Hellsehen (magnetisches Schlafwachen, clairvoyance) bei ihnen auftreten, d. h. sie sollen imstande sein, Dinge, die in der Zukunft vorkommen werden, vorauszusehen, und sie sollen imstande sein, Gegenstände, die in verschlossenen Kisten oder an weit entfernten Punkten sich befinden, so daß jedes normale Sehen unmöglich ist, zu erkennen. Außerdem glaubte man die sogen. Sinnesverlegung (transposition des sens) zu beobachten; während man z. B. Buchstaben unter normalen Verhältnissen nur mit dem Auge lesen kann, sollen Somnambule imstande sein, mit der Magengrube und ganz besonders mit dem sogen. Sonnengeflecht, gewissen nervösen Organen im Unterleib, zu lesen. Endlich soll im S. auch die Erkennung von Gedanken andrer Personen, die sogen. Telepathie, besonders häufig auftreten.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 594-595.
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