Haarmenschen

[580] Haarmenschen, Personen, die in übermäßiger Weise und an sonst haarfreien Körperstellen, namentlich über das ganze Gesicht, mit einem langen, von dem gewöhnlichen Haar verschiedenen Seiden- oder Wollhaar bedeckt sind. Obwohl solche meist erblich auftretende Überbehaarung (Hypertrichosis), wie ältere Nachrichten und Porträte bezeugen, auch früher öfters beobachtet worden ist, so wurden doch erst einige in der Neuzeit vorgekommene, besonders ausgezeichnete Fälle wissenschaftlich untersucht und beschrieben. Der erste hiervon betraf die Familie Shwé Maong am Hofe von Ava. Bei dem Großvater, der 1829 von Crawford und Wallich beobachtet wurde, war das ganze Antlitz, mit alleiniger Ausnahme des roten Lippensaums, mit seinen silbergrauen, seidenartigen, an Stirn und Wangen etwa 20 cm, an Nase und Kinn etwa 10 cm langen Haaren völlig bedeckt. Sowohl die äußere als innere Ohrmuschel trug ähnlich lange Haare, so daß aus jedem Ohr ein Büschel derselben heraushing, und ebenso waren andre Körperstellen, z. B. die Vorderarme, mit 10–20 cm langen Haaren bedeckt. Ähnlich behaart war seine Tochter Maphron, die 1855 von Yule genau beschrieben wurde, und deren 1867 vom Kapitän Houghton beobachtete beide Söhne. Bei den letztern war übrigens der gesamte Körper stark behaart (Hypertrichosis universalis, Abbildung der ganzen Familie in Virchows »Archiv«, 1868). Ganz ähnlich war die Erscheinung des »russischen H.« Andrieu Jestichew, der wie sein Sohn und die indischen H. ein mangelhaftes Gebiß besaß. Sein Oberkiefer war bis auf den linken Eckzahn völlig zahnlos, und ebenso besaß Shwé Maong im Oberkiefer nur vier Zähne. Mehr den bärtigen Frauen analog verhielt sich die mexikanische Tänzerin Julia Pastrana, bei der borstige Haare wie ein struppiger Bart sich über Kinn, Oberlippe und Stirn hinzogen, während Wangen und Nase mehr oder weniger frei hervorblickten. Sie besaß eine doppelte Zahnreihe im Ober- und Unterkiefer. Als Rassencharakter findet sich eine Rückenmähne bei Mikronesiern. Die abnorme Behaarung tritt auf an einem in der Norm unbehaarten Körperteil (Heterotopie), an einem in späterer Zeit behaarten Teil vor der normalen Zeit (Heterochronie), und als Bartwuchs bei Frauen, der in der Regel mit Unterdrückung der Geschlechtsfunktion und Stimmwechsel verbunden ist (Heterogenie). Zu diesen Erscheinungen gehören nicht die abnormen Hautbildungen, sogen. Muttermäler, die sich über größere Körperstellen (bisweilen den ganzen Rücken) ausdehnen und stark mit, wie sie selbst, dunkel pigmentiertem Haar bedeckt sind (naevi pilosi). Einen weitern Fall bildet die abnorme Behaarung des untern Endes der Wirbelsäule in der Kreuzgegend, so daß dort ein Haarschwänzchen wie bei den Faunen und Satyrn der alten Kunst hervorspringt. Bei dieser Sakraltrichose liegt oft Rückgratsspaltung (Spina bifida) vor, doch fand Ecker an derselben Stelle bei ganz jungen Kindern ein Haarschwänzchen, und hier wie auch sonst erinnert die Hypertrichose an ein Fortwachsen des Haarkleides der ungebornen Kinder. Vgl. Stricker in den »Berichten der Senckenbergschen Naturforschenden Gesellschaft« (Frankf. 1876–77); Ecker im »Globus« 1878 und im »Archiv für Anthropologie« 1879; Bartels in der »Zeitschrift für Ethnologie« 1876 und 1879; Ranke, Der Mensch, Bd. 1 (2. Aufl., Leipz. 1894).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 580.
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