Archīv

[728] Archīv (griech. archeion, d.h. sicheres Gebäude. lat. archium, archivum, chartarium, tabularium, scrinium), eine Sammelstätte auf amtlichem Weg erwachsener und in amtlichem Interesse aufbewahrter Schriftstücke, die als Zeugnisse der Vergangenheit zugleich Quellen der Geschichtswissenschaft sind. Griechen und Römer verwahrten in der ältesten Zeit die zur Aufbewahrung bestimmten Urkunden und Akten in den Tempeln: so dienten das Heiligtum der Demeter, das Metroon, in Athen, die Tempel des Saturn, der Ceres u.a. in Rom als Staatsarchive. Das kaiserliche A. befand sich in Rom auf dem Palatin und später in Byzanz am kaiserlichen Hofe; daneben bestanden die Provinzialarchive der höhern Beamten und Archive der Städte. Nach dem Muster dieser römischen Archive aus der Kaiserzeit organisierten die Päpste das ihrige. Die ältesten zuverlässigen Nach richten über das päpstliche A. führen in die Zeit des Papstes Damasus (366–384); doch ist uns aus der Epoche vor dem 13. Jahrh. nur wenig davon erhalten. Unter Paul V. (1605–21) wurde das jetzige vatikanische A. erbaut, und am Ende des 18. Jahrh. wurde auch das A. der Engelsburg in den Vatikan gebracht. Wie die Päpste, so sorgten auch Bischöfe und Äbte und bald auch die Städte für gute Ordnung ihrer Archive; dagegen blieb das Archivwesen der weltlichen Fürsten hinter dem der geistlichen lange zurück. Unter Karl d. Gr. befand sich ein A. in der kaiserlichen Pfalz zu Aachen; später führten die Kaiser Urkunden und Akten auf ihren Zügen mit sich. Mit Ausnahme dessen, was Heinrich VII. bei seinem Tode (1313) in Italien zurückließ (setzt in Turin und Pisa aufbewahrt), hat sich aus älterer Zeit fast nichts von den Beständen des Reichsarchivs erhalten. Erst im 15. Jahrh. ward für dessen bessere Organisation gesorgt, und 1495 wurde zum erstenmal versucht, gesetzliche Bestimmungen darüber zu treffen. Das Reichshofarchiv ist jetzt in Wien; eben dahin sind 1866 die Reste des Archivs der Mainzischen Reichskanzlei gebracht worden; das A. des ehemaligen Reichskammergerichts ist teils unter die einzelnen Bundesstaaten verteilt, teils unter preußischer Verwaltung in Wetz lar verblieben. Auch die Geschichte der landesfürstlichen Archive Deutschlands geht nicht über das 14. Jahrh. zurück; viel früher dagegen ist eine zweck mäßige Ordnung des Archivwesens im normannischen Unteritalien, in Frankreich und in England erfolgt

Das neue Deutsche Reich besitzt noch kein eignes A. In Preußen untersteht die Archivverwaltung dem Präsidenten des Staatsministeriums; an ihrer Spitze steht der Generaldirektor der Staatsarchive in Berlin; die 18 Staatsarchive in Berlin (Geheimes Staatsarchiv), Aurich, Breslau, Danzig, Düsseldorf, Hannover, Koblenz, Königsberg i. Pr., Magdeburg, Marburg. Münster, Osnabrück, Posen, Schleswig, Sigmaringen, Stettin, Wetzlar, Wiesbaden werden von Archivdirektoren oder Staatsarchivaren geleitet. Das königliche Hausarchiv in Charlottenburg untersteht dem Hausministerium. In Bayern gibt es außer dem Allgemeinen Reichsarchiv, dem Geheimen Hausarchiv und dem Geheimen Staatsarchiv in München Kreisarchive in Amberg, Bamberg, Landshut, München, Neuburg a. d. Donau, Nürnberg, Speyer und Würzburg. Die Staatsarchive der übrigen Bundesstaaten befinden sich mit wenigen Ausnahmen (Zerbst für Anhalt, Wolfenbüttel für Braunschweig) in den Hauptstädten. [728] Elsaß-Lothringen hat noch kein Landesarchiv, aber drei Bezirksarchive in Kolmar, Metz und Straßburg. Die Archive der größern deutschen Städte, wie Aachen, Frankfurt a. M., Köln, Nürnberg, Straßburg u.a., kommen manchen Staatsarchiven an historischer Bedeutung gleich. In Österreich gibt es neben dem k. u. k. Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien, das unter dem Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten steht, wichtige Archive bei dem Kriegs-, Finanz- und andern Ministerien und Statthalterei- oder Landesarchive in den einzelnen Kronländern, die bedeutendsten in Graz, Innsbruck und Prag. Die Schweiz hat außer dem Bundesarchiv in Bern Staatsarchive in allen Kantonen. In Frankreich ist das Zentralarchiv (Archives nationales) in Paris; die Ministerien haben ihre eignen Archive, unter denen die der Auswärtigen Angelegenheiten und des Krieges die wichtigsten sind; Provinzialarchive bestehen in alten Hauptorten der Departements. Das englische Staatsarchiv (Public Record Office) in London steht unter der obersten Leitung des Master of the rolls, eines hohen richterlichen Beamten; mit Vorschlägen für die Ordnung des sehr mangelhaft organisierten Archivwesens in den Provinzen ist neuerdings eine königliche Kommission beauftragt worden. Ein Public Record Office besteht auch für Irland in Dublin; das schottische Staatsarchiv in Edinburg heißt General Register House. In Italien ist die Archivverwaltung dem Ministerium des Innern unterstellt; es gibt 10 Oberbeamte (Sovrintendenti degli Archivi) bei den Archiven zu Bologna, Cagliari, Florenz, Genua, Mailand, Neapel, Palermo, Rom, Turin und Venedig; außerdem bestehen Staatsarchive in Brescia, Lucca, Mantua, Massa, Modena, Parma, Pisa, Reggio d'Emilia und Siena. Daneben sind hier außer den städtischen auch die Archive der Bischöfe und der Domkapitel, einzelner Klöster, wie Monte Cassino, und der Notariatskollegien wichtig. In Belgien und den Niederlanden gibt es außer den Zentralarchiven in Brüssel und im Haag andre in den Hauptstädten aller Provinzen. Für den Norden und Osten Europas sind die Staatsarchive von Budapest, Christiania, Helsingfors, Kopenhagen, Petersburg, Stockholm und Warschau von besonderer Bedeutung. Das portugiesische Hauptarchiv ist in Lissabon, das Archivo general für Spanien in Simancas; außerdem sind für Spanien das Archivo histórico nacional in Madrid und das Archivo general de la corona de Aragon in Barcelona von hervorragender Wichtigkeit.

Für die fachmäßige Ausbildung der Archivbeamten sorgen in Frankreich die École des chartes in Paris, die ihre Zöglinge nach bestandenem Examen mit dem Titel Archiviste-paléographe entläßt, in Österreich das Institut für österreichische Geschichtsforschung in Wien, in Italien die mit den größern Staatsarchiven verbundenen Scuole paleografiche, in Rußland das Archäologische Institut in Petersburg. In Bayern ist eine Archivschule mit dem allgemeinen Reichsarchiv verbunden, für Preußen eine solche bei der Universität Marburg eingerichtet; auch in Straßburg finden zu diesem Zweck an der Universität besondere Lehrkurse statt.

Nach seinen Hauptbeständen zerfällt jedes A. in ein Urkunden- und ein Aktenarchiv. Für die Ordnung und Registrierung der Urkunden bietet die chronologische Reihenfolge den natürlichen Rahmen, bei größern Archiven innerhalb der historisch gegebenen Abteilungen, Fürstentümer, Stifter Städte etc. Neben den Originalen werden die namentlich in den Kopialbüchern überlieferten Urkundenabschriften verzeichnet. Orts- und Personennamen werden in Registern zusammengestellt. Die Ordnung der Akten wird in jedem A. eine andre sein. In Staatsarchiven gliedern sich die Akten nach den Zentral- und Provinzialbehörden, bei denen sie erwachsen sind. Auch bei Stadtarchiven und bei kleinern Archiven werden meist die Spuren früherer Ordnung verfolgt und, wenn möglich, die alten Bestände wiederhergestellt. Spezialrepertorien und Sachregister erleichtern die Nutzbarmachung. Mit der Veröffentlichung von Repertorien ist Frankreich durch die von der Regierung herausgegebenen »Inventaires sommaires«, von denen schon weit über 200 Bände erschienen sind, allen andern Staaten vorangegangen. In Italien haben besonders die toskanischen Staatsarchive sich in dieser Hinsicht verdient gemacht; in Deutschland hat sich nach den Stadtarchiven von Köln und Frankfurt neuerdings das Staatsarchiv von Karlsruhe diesem Beispiel angeschlossen. Auch viele andre wissenschaftliche Veröffentlichungen verdankt man den Archivverwaltungen, von denen die seit 1878 erscheinenden »Publikationen aus den königlich preußischen Staatsarchiven« und die »Calendars of State papers« des englischen Record Office erwähnt werden mögen. Als Organe der Archivkunde dienen jetzt namentlich die »Archivalische Zeitschrift« in München (seit 1876), das seit 1892 in Groningen erscheinende »Nederlandsch Archivenblad« und die »Revue internationale des archives, des bibliothèques et des musées« in Paris (seit 1895). Dienen die Staatsarchive in erster Linie Verwaltungszwecken, so sind sie mit dem Wachsen des historischen Sinnes immer mehr zu Pflegestätten historischer Wissenschaft geworden, zumal in den meisten Staaten eine liberale Auffassung in betreff der Benutzung zur Geltung gelangt, vielfach auch die Versendung von Archivalien an Bibliotheken und Behörden gestattet ist.

Vgl. Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter (3. Aufl., Leipz. 1896); Breßlau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien (das. 1889, Bd. 1); v. Löher, Archivlehre (Paderb. 1890); »Zeitschrift für Archivkunde, Diplomatik und Geschichte« (hrsg. von Höfer, Erhard und v. Medem. Hamb. 1834–36, 2 Bde.); »Zeitschrift für die Archive Deutschlands« (hrsg. von Friedemann, Hamb. und Gotha 1846–53, 2 Bde.); »Korrespondenzblatt der deutschen Archive« (hrsg. von Burkhardt, Leipz. 1878–80, 3 Bde.); Holtzinger, Katechismus der Registratur- und Archivkunde (das. 1883); Memelsdorff, De archivis imperatorum Romanorum (Berl. 1890); De Rossi, De origine, historia, indicibus scrinii et bibliothecae sedis apostolicae (Einleitung zu den »Codices palatini latini«, Rom 1886); Löwenfeld, Geschichte des päpstlichen Archivs (»Historisches Taschenbuch«, 6. Folge, Bd. 5. Zur neuesten Geschichte etc., ebenda, Bd. 6); Burkhardt, Hand- und Adreßbuch der deutschen Archive (2. Aufl., Leipz. 1887); (v. Lancizolle) »Denkschrift über die preußischen Staatsarchive« (Berl. 1855); Gollmert, Die preußischen Staatsarchive (das. 1857); v. Weber, Über das Hauptstaatsarchiv zu Dresden (im »A. für sächsische Geschichte«, Bd. 2); K. Menzel, Über Ordnung und Einrichtung der Archive (in Sybels »Historischer Zeitschrift«, Bd. 22); Wiegand, Bezirks- und Gemeindearchive im Elsaß (»Jahrbuch des Vogesenklubs«, Bd. 14); »Relazione sugli archivi di stato italiani« (Rom 1883); Mazzatinti, Gli archivi [729] della storia d'Italia (Rocca San Casciano 1897 ff.); Bordier, Les archives de la France (Par. 1854); Laborde, Les archives de la France (das. 1867); Richon, Traité théorique et pratique des archives publiques (das. 1883); Langlois und Stein, Les archives de l'histoire de France (das. 1891–95); Rye, Records and record searching (Lond. 1886); Bird, A guide to the principal classes of documents preserved in the Record Office (das. 1891); Cadier, Les archives d'Aragon et de Navarre (»Bibl. de l'École des chartes«, 1888).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 728-730.
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